In Management-Magazinen fallen derzeit häufig die Schlagworte ‚agiles Arbeiten‘ und ‚Lean‘. Das ist kein Wunder, denn Unternehmen sehen sich immer stärker mit schnellen Marktveränderungen konfrontiert. Und diese beiden Ansätze versprechen das nötige Handwerkszeug, um angemessen auf Veränderungen reagieren zu können.

Ich habe mich mit dem coliquio-CTO und Agile-Experten Stefan Engels und dem CPO und Lean-Spezialisten Markus Munk darüber unterhalten, wie Agile und Lean in klassischen Branchen von Nutzen sein können.

Luise Recktenwald: Ihr seid bei coliquio der Agile- beziehungsweise der Lean-Experte. Könnt ihr kurz und knapp erklären, was damit eigentlich gemeint ist?

Stefan Engels: Um diese Frage zu beantworten, fange ich am besten damit an, was ‚Agile‘ nicht meint: Schnelligkeit. Agilität bedeutet, wandlungsfähig zu sein und als Unternehmen schnell auf Ereignisse reagieren zu können. Die Arbeitsprozesse werden also nicht unbedingt schneller, sondern flexibler. Damit das funktioniert, benötigen Unternehmen eine Kultur der ständigen Weiterentwicklung. Mitarbeitern muss die Freiheit gegeben werden, ihre Arbeit immer wieder zu reflektieren und Verbesserungsmaßnahmen festzulegen. Am besten funktioniert das in kurzen, iterativen Intervallen.

Markus Munk: Bei ‚Lean‘ geht es darum, die Verschwendung von Ressourcen zu reduzieren. In der Produktentwicklung heißt das beispielsweise, Ideen und Konzepte möglichst schnell und zielführend zu validieren. Dazu identifiziert man Teilideen, die man schnell umsetzen, testen und bewerten kann. Dieses Vorgehen nennt man „Build, measure, learn“.

Am besten testet man die kritischen Aspekte zuerst, um eine Idee so schnell wie möglich validieren oder verwerfen zu können.

Grundsätzlich geht es bei Lean darum, unsere Arbeitsweise und Prozesse so zu optimieren, dass alles was wir tun zur Wertschöpfung beiträgt.

Stefan Engels: Um es nochmal auf den Punkt zu bringen: Lean und Agil sind sozusagen zwei Kinder von einer Mutter. Es geht bei beiden Ansätzen darum, die Arbeitsweise zu optimieren. Dabei soll ‚Lean‘ die Verschwendung von Ressourcen reduzieren und ‚Agilität‘ Flexibilität ermöglichen.

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Luise Recktenwald: Für junge, kleinere Unternehmen klingen diese Ansätze sehr naheliegend. Bei coliquio als Online-Unternehmen ist diese Arbeitsweise quasi Grundvoraussetzung. Aber haben diese Themen auch für große oder klassischere Unternehmen eine Relevanz?

Markus Munk: Auf jeden Fall! Wir alle wissen, dass Technologien sich schneller verändern, als es uns lieb ist. Beispielsweise gibt es das iPhone erst seit 2007. Trotzdem sind Smartphones aus unserem Alltag schon lange nicht mehr wegzudenken. Das ist nur ein Beispiel, das verdeutlicht, wie schnell sich unser Alltag durch Technologie verändert. Der Wandel geht heute in allen Industrien schneller vonstatten als noch vor 20 Jahren. Das bringt Herausforderungen  mit sich, die man nicht immer voraussehen kann, und davor haben alle Respekt.

Stefan Engels: Es gibt immer mehr Unternehmen, die vermeintlich hohe Einstiegshürden in Nullkommanichts überwinden. Das sind zum Teil Startups, aber auch Unternehmen wie Apple, Google oder Facebook. Sie sind völlig anders aufgestellt als die meisten Unternehmen. Das schließt ihre Strukturen und Arbeitsprozesse mit ein, aber sie haben auch immense finanzielle Ressourcen.

  • Es gibt keinen sicheren Spielplatz mehr. Wenn Unternehmen wie Apple in einem Markt Potential sehen, werden sie in diesen Markt gehen. Sie können dabei hunderte Millionen investieren, ohne mit der Wimper zu zucken.

    Stefan Engels CTO, coliquio

Markus Munk: Genau. Dafür gibt es viele Beispiele aus klassischen Industriezweigen. Zum Beispiel will Apple bald das erste Apple Car auf den Markt bringen – als totaler Branchenneuling!

Und Alphabet (US-amerikanische Holding von Google, Anm. d. Red.) fasst mit der Tochterfirma Calico zunehmend Fuß im Healthcare-Markt. Da werden große Summen investiert.

Stefan Engels: Unabhängig von der Industrie, kein Unternehmen kann sich seiner Marktführerschaft mehr sicher sein. Aber manche Unternehmen verschließen sich vor der Realität. In einem interessanten Artikel habe ich vor kurzem gelesen:

  • The Swiss watch industry has been very slow to react to the development of smartwatches. It has been sticking its head in the sand and hoping smartwatches will go away.

    Neil Mawston Executive Director, Strategy Analytics

Wer so denkt, der hat bereits verloren. Entwicklungen wie Smartphones oder Smartwatches werden nicht einfach wieder verschwinden. Genauso wenig wie die neuen Wettbewerber. Firmen müssen umdenken und für neue Konzepte offen sein – und genau dabei kann der Einsatz leaner und agiler Ansätze hilfreich sein. Deshalb ist diese Arbeitsweise auch für Unternehmen in konservativen Industrien relevant.

Luise Recktenwald: Wo genau liegt denn der Unterschied zur bisherigen Arbeitsweise dieser Unternehmen? Was spricht gegen die klassischen Strukturen – oder weshalb sind Lean und Agile zeitgemäßer?

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Markus Munk: Die Arbeitsweise in den meisten Unternehmen ist bis heute stark durch die Industrialisierung geprägt. Damals wurde die Produktion so kleinteilig wie möglich organisiert, um Verschwendung zu reduzieren und Arbeitsschritt für Arbeitsschritt entlang der Wertschöpfungskette zu überwachen. Jeder Arbeiter hatte eine konkrete, klar abgegrenzte Aufgabe und wusste daher nicht, wie das große Ganze funktioniert. Dafür gab es Vorarbeiter und Manager.

So entstand die hierarchische Organisation von Unternehmen, die wir bis heute kennen. Natürlich sind Hierarchien nicht grundsätzlich falsch.

  • Aber immer mehr Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, lassen sich nicht mehr hierarchisch lösen. Da muss ein Umdenken stattfinden!

    Markus Munk CTO, coliquio

Auch die Mitarbeiter in den untersten Hierarchiestufen leisten heute immer mehr Denkarbeit. Die Unterteilung von Aufgaben in einzelne kleine Schritte, so wie früher ein Arbeiter am Fließband nur ein bestimmtes Teil angeschraubt hat, ist nicht mehr möglich. Deshalb müssen sich die Organisationsstrukturen ändern. Unternehmen können nur dann angemessen auf Veränderung reagieren, wenn den Mitarbeitern und Teams mehr Verantwortung und Entscheidungsfreiheit übertragen wird. Leane und agile Ansätze machen das möglich.

Luise Recktenwald: So eine Veränderung im Unternehmen anzustoßen ist eine große Aufgabe. Wo kann man da anfangen?

Markus Munk: Wichtig ist es, erstmal Überzeugungsarbeit zu leisten. Ein Einzelkämpfer wird das nicht schaffen. Es wird auch nicht funktionieren, einfach zu beschließen „Ab heute arbeiten wir lean und agil“. Wichtig ist an erster Stelle das Empowerment durch das Management, die müssen mitziehen.

Stefan Engels: Ich empfehle, im ersten Schritt mit den Prozessen anzufangen. Für ein konkretes Projekt oder ein einzelnes Team einen agilen Prozess zu definieren ist ja keine Rocket Science. So kann man ohne großen Aufwand ausprobieren und testen, ob es sich bewährt.

Markus Munk: Genau. Das ist dann ja schon eine leane Herangehensweise. Man sieht im kleinen Rahmen, worauf es bei der Umsetzung ankommt. Und dann können nach und nach immer mehr Teams oder Abteilungen einsteigen. Denn wenn sich die neue Arbeitsweise bewährt, wird es immer weniger Überzeugungsarbeit brauchen.

Stefan Engels: Aber natürlich geht es um mehr als einen Prozess. Am Ende steht und fällt alles mit dem Mindset der Mitarbeiter. Das ist der zweite Schritt und die Königsdisziplin. Wie gesagt, es geht darum, dass immer mehr Verantwortung im Team und bei den einzelnen Mitarbeitern liegt. Und das müssen die Vorgesetzten anstoßen. Nur wenn sie zuerst Verantwortung abgeben, können Mitarbeiter sie übernehmen.

 

Markus und Stefan, vielen Dank für das Gespräch!

Stefan Engels

Als CTO der coliquio GmbH versteht sich Stefan Engels über sein technisches Aufgabengebiet hinaus vielmehr als „Chief Transformation Officer“ mit starkem Fokus auf die Kultivierung eines firmenweiten agilen Mindsets. In mehr als 15 Jahren Software-Entwicklung konnte er in unterschiedlichen Rollen diverse Firmen bei ihrer agilen Wandlung begleiten. Seine Leidenschaft ist dabei Skalierbarkeit – von der Infrastruktur über die Software-Architektur bis zur Organisationskultur. Und wie sollte es anders sein: Er ist davon überzeugt, dass das in dynamischen Unternehmen nur über agiles Management erfolgreich geschehen kann!

Markus Munk

Markus Munk ist seit Mitte 2014 Chief Product Officer (CPO) bei der coliquio GmbH.  In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat er unterschiedlichste Internet-Companies im StartUp-Umfeld bei der Web-Produktentwicklung begleitet. Ihn fasziniert die Dynamik, in der sich Unternehmen heute bewegen. Um dabei erfolgreich zu sein, gibt es  verschiedene Anforderungen: Schnelligkeit in der Produktentwicklung, Veränderungsfähigkeit des Unternehmens und Management des Wachstums. Er ist überzeugt, dass die konsequente Anwendung von agilen Methoden und Lean-Product-Development die richtigen Werkzeuge sind, um diese Herausforderungen zu meistern!

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