In der Debatte rund um das E-Health-Gesetz stehen häufig Befürchtungen im Vordergrund. Der Blick dafür, was aktuell schlecht läuft und zukünftig durch Digitalisierung verbessert werden könnte, kommt dabei häufig zu kurz. Zudem werden junge Ärzte kaum in die Debatte mit einbezogen.

Diese Beobachtungen veranlassten die angehenden Mediziner Pascal Nohl-Deryk und Jesaja Kenneth Brinkmann dazu, sich mit dem Essay „Blick einer neuen Medizinergeneration auf Telemedizin und das Arztsein im Internetzeitalterzu Wort zu melden.

Darin argumentieren sie aus der Perspektive derjenigen Ärzte, die „letztlich damit werden arbeiten müssen, was jetzt beschlossen wird.“

Im Interview mit coliquio Insights geben die beiden einen Einblick, was die Digitale Transformation aus Arztsicht bedeutet.

Telemedizin: Chancen für eine qualitative Verbesserung des Gesundheitssystems

Luise Recktenwald: Ein zentrales Thema in Ihrem Essay ist die Telemedizin. Sie schreiben, dass Sie sich durch Telemedizin eine qualitative Verbesserung des Gesundheitssystems erhoffen. Können Sie dafür konkrete Beispiele nennen?

Versorgungssituation auf dem Land: Operationen per Joystick?

Pascal Nohl-Deryk: Ich bin beispielsweise ein Fan der ländlichen Region. Dort ist manchmal nur noch die Primärversorgung gesichert. Auch in regionalen Krankenhäusern gibt es für bestimmte und seltene Erkrankungen keinen spezialisierten Arzt.

Mit einer relativ einfachen Tele-Konsultation könnte man sich aber Expertise von Zentren in die Peripherie holen. In anderen Ländern ist das auch längst Standard. Prinzipiell ist das auch bei Operationen denkbar, dass man eine Kamera anschaltet und der Experte Ratschläge geben kann. Oder noch weiter gedacht: Es gibt ja erste Operationsroboter. Mit diesen könnte der Experte von seinem Zentrum aus selbst Patienten in einer ländlichen Region operieren.

Luise Recktenwald: Das heißt, es könnte dann ein Experte in Berlin sitzen, der quasi am Joystick operiert und der Patient liegt irgendwo auf dem Land im Kreiskrankenhaus?

Jesaja K. Brinkmann: Genau. Das ist ja durch den Operationsroboter „DaVinci“ heute schon möglich. Er wird nur sehr selten verwendet, weil es noch haftungsrechtliche Einwände gibt, die geklärt werden müssen. Aber es ist auf jeden Fall eine große Chance, um Expertise zu skalieren und an vielen Orten verfügbar zu machen.

Zeitersparnis durch Smartphones als ‚Arzt in der Hosentasche‘

Luise Recktenwald: Dass Spezial-OPs dezentral durchgeführt werden müssen, ist ja eher ein Sonderfall. Welche Chancen sehen Sie denn für einen ganz normalen Arztbesuch?

Jesaja K. Brinkmann: Viele Arztbesuche sind sehr banal, für die Patienten ist durch Anfahrt und Wartezeit damit aber ein hoher Zeitaufwand verbunden. Durch moderne Technik und den Einsatz von Smartphones hätte der Patient den Arzt quasi in der Hosentasche und könnte ihn ortsunabhängig kontaktieren und Fragen stellen. Es ist nicht immer nötig, persönlich zu erscheinen. In Zukunft werden ja auch in der Mobilität eingeschränkte Patienten sehr Smartphone-affin sein. Diese würden davon besonders profitieren.

Telemedizin-Angebote werden von Patienten gut angenommen

Luise Recktenwald: Herr Brinkmann, welche Erfahrungen haben Sie bei Ihren Praktika bei DrEd und CARDIOGO gemacht? In Umfragen zeigen sich sowohl Patienten als auch Ärzte eigentlich sehr aufgeschlossen gegenüber Telemedizin. Es gibt aber noch rechtliche Hürden und bislang müssen Patienten die Leistungen selbst bezahlen. Wie gut wurden die Angebote angenommen?

Jesaja K. Brinkmann: Generell geben die Patienten gutes Feedback. Viele freuen sich, dass jetzt etwas angeboten wird, was lange gefehlt hat. Es gibt durch diese Start-Ups jetzt die ersten echten „Online-Ärzte“, die in deutscher Sprache diagnostizieren und behandeln, das sind ja wirklich noch Pioniere. Deswegen war der Grundtenor bei den Patienten sehr, sehr positiv. Auch zeigen sich erste Krankenkassen zur Erstattung telemedizinischer Services bereit.

Kritiker warnen vor Technikabhängigkeit

Luise Recktenwald: Wir haben über verschiedene positive Aspekte der Telemedizin gesprochen. Doch Kritiker warnen vor Technik-Abhängigkeit – was entgegnen Sie auf dieses Argument?

Pascal Nohl-Deryk: Das ist natürlich nicht ganz falsch, also Technikabhängigkeit resultiert daraus zwangsläufig. Allerdings ist es doch so, dass wir längst technikabhängig sind. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist da die Kardiologie. Oberärzte der älteren Generation können noch richtig gut auskultieren, die setzen ihr Stethoskop auf und nach einer viertel- bis halben Stunde können die sagen, was es für ein Herzklappenfehler ist. Das können die wenigsten Assistenzärzte heutzutage noch, weil sich da die Sonographie durchgesetzt hat, also der Ultraschall. Klappenfehler werden heute immer diagnostisch per Ultraschall bestimmt. Sagen wir mal, es gibt einen dauerhaften Stromausfall, dann darf man sich nichts vormachen:  Wir sind  längst technikabhängig. Das ist eine ganz normale Entwicklung moderner Technik, der Modernisierung. Wir müssen uns eingestehen, dass wir in gewissen Maßen technikabhängig sind und für Stromausfälle oder andere Probleme gut vorsorgen.

Digitale vs. analoge Patientenakte:
Die Vor- und Nachteile

Analoge Patientenakte: Für Unbefugte oft leicht zugänglich

Luise Recktenwald: In Ihrem Essay schreiben Sie speziell über die digitalen Gesundheitsdaten, zum Beispiel die elektronische Patientenakte. Welche Datenschutz-Probleme sehen Sie heute bei den analogen Patientenakten und welches Verbesserungspotential haben digitale Akten?

Pascal Nohl-Deryk: Bisher ist analoge Datenspeicherung häufig sehr unsicher. Arztbriefe und Patientenakten liegen in Praxen oder Krankenhäusern oft offen herum. Auch Räume, in denen Akten gelagert werden, sind nicht unbedingt durch Schließsysteme geschützt, sondern für Unbefugte leicht zugänglich. Was auch so ein Klassiker ist: Man braucht exakt einen Anruf, um den Befund eines Patienten zu erfahren. Es findet keine Überprüfung statt, ob der Anrufer überhaupt die Person ist, für die er sich ausgibt. Prinzipiell ist dieser Missbrauch möglich, es passiert offensichtlich wenig – oder es wird nicht thematisiert.

Digitale Patientenakte: Datenschutz & Potential für die Forschung

Luise Recktenwald: Was könnte die elektronische Patientenakte da konkret verbessern?

Jesaja K. Brinkmann: Ich denke, dass sich durch die elektronische Patientenakte der Zugriff auf die Daten besser kontrollieren lässt. Wenn man gute Verschlüsselungstechniken anwendet, dann ist der Datenschutz sogar höher, als wenn die Daten in Papierform in Praxen oder Krankenhäusern aufbewahrt werden. Es wäre durch Zugriffsprotokolle dann genau sichtbar, wer von wo wann die Daten aufgerufen hat.

Eine weitere Chance ist, dass die Daten anonymisiert für Forschungszwecke genutzt werden könnten, was dann auch einen gesellschaftlichen Impact hätte. Beispielsweise stünde dem Robert-Koch-Institut so ein riesen Datensatz für die epidemiologische Forschung zur Verfügung.

Dr. Google: Das Arzt-Patienten-Verhältnis verändert sich

Luise Recktenwald: Sprechen wir über Dr. Google. Viele Patienten suchen schon bevor sie zum Arzt gehen im Internet, basierend auf ihren Symptomen, nach Diagnosen oder Therapien. Wie bewerten Sie dieses Verhalten?

Jesaja K. Brinkmann: Informationen werden durch das Internet demokratisiert. Es gibt kein wirkliches Wissensmonopol auf wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder ärztlicher Seite mehr. Informationen sind heute jedem überall zugänglich – auch vor, während oder nach einem Arztbesuch. Das ist erstmal eine große Chance, sofern das Angebot für laienverständliche Gesundheitsangebote stimmt – da muss man von institutioneller Seite vielleicht noch bessere Angebote schaffen. Natürlich gibt es auch fehlinformierte Patienten und es kann schwierig sein, Fehlinformationen richtigzustellen. Doch generell sind wir in meinen Augen auf dem richtigen Weg, hin zu einer Arzt-Patienten-Beziehung, in der sich Arzt und Patient auf gleicher Augenhöhe begegnen.

Pascal Nohl-Deryk: Ich finde es hängt auch davon ab, was man als Arzt daraus macht. Patienten suchen im Internet nach Information, weil es die am einfachsten verfügbare Quelle ist und Ärzte im Vergleich nicht so einfach verfügbar sind. Wenn man darauf als Arzt jedes Mal abwertend reagiert, führt das nicht weiter. Ich glaube, dass es stattdessen hilfreich ist, aktiv nachzufragen, ob Patienten bei ihrer Informationssuche auf etwas gestoßen sind, das sie beunruhigt. Denn wenn Patienten bestimmte Symptome googeln, werden sie zwangsläufig auch bestimmte Diagnosen finden. Man kann immer irgendetwas Beunruhigendes finden, dementsprechend ist es hilfreich, als Arzt danach zu fragen und proaktiv damit umzugehen.

Umgang mit dem informierten Patienten:
4 Empfehlungen für Ärzte

Luise Recktenwald: Manche Ärzte, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, tun sich mit der neuen Situation vielleicht schwer. Welche Empfehlungen würden Sie für diese Kollegen formulieren? Wie können Ärzte sinnvoll mit der neuen Situation umgehen?

1. Gute Informationsquellen im Internet kennen & weiterempfehlen

Jesaja K. Brinkmann: Also ich denke, Ärzte sollten sich zunächst einmal selbst bewusst sein, wo es im Internet gute Informationen gibt. Und dann ihre Patienten auf gute Informationsquellen oder auch Methoden hinweisen, wie man im Internet an gute Informationen kommt. Hier zu nennen wäre z. B. vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die Seite www.gesundheitsinformation.de. Nach einem Behandlungsgespräch können beim Patienten ja durchaus noch viele Fragezeichen vorhanden sein. Wenn ein Patient sich anschließend in Ruhe weiter informieren kann, kann das einen positiven Einfluss auf das nächste Gespräch haben. Ich glaube, dass man durch Hinweise auf gute Informationsquellen letztendlich Zeit spart und Patienten in die Behandlung viel besser mit einbinden und letztlich die Adhärenz steigern kann. Das vielleicht als ersten Punkt.

2. Proaktiv nach der Recherche im Internet fragen

Pascal Nohl-Deryk: Als zweiten Punkt sehe ich das proaktive Nachfragen, über das wir gerade schon gesprochen haben. Nachzufragen, ob denn nach Informationen gesucht wurde und dabei etwas Beunruhigendes gefunden wurde. Eventuell kann man dann nämlich auch Entwarnung geben.

3. Sich eingestehen, dass man nicht alles wissen kann und muss

Pascal Nohl-Deryk: Drittens ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass man nicht alles wissen kann und muss. Das fällt natürlich schwer. Insbesondere chronische Patienten sind dafür bekannt, dass sie häufig besser über ihre Erkrankung Bescheid wissen als der Arzt, mit dem sie am meisten in Kontakt stehen.  Das ist auch kein Wunder. Wenn man sich darauf einstellt, die nächsten 35 Jahre seines Lebens mit einer Erkrankung zu leben, informiert man sich ausgiebig. Und es gibt ja auch Therapieformen, die vielleicht nicht in der Leitlinie stehen, aber trotzdem einigen Patienten geholfen haben oder evidenzbasiert sind, aber relativ selten zum Einsatz kommen. Man sollte durchaus auch sagen können „Es tut mir leid, das weiß ich nicht, wenn Sie das nächste Mal zu mir kommen, werde ich mich darüber informiert haben.“ Es ist nicht schlimm, etwas nicht zu wissen, es ist nur die Frage, wie man damit umgeht.

4. Den Patienten ernstnehmen und ihm auf Augenhöhe begegnen

Jesaja K. Brinkmann: Letztendlich geht es einfach darum, den Patienten ernst zu nehmen – mit seinen Problemen, mit seiner Informationsrecherche, mit seinen Ängsten und auch mit seinem Wissen. Die Zeiten vom paternalistischen Arzt-Patienten-Modell sind vorbei. Zukünftig wird in Praxen und Krankenhäusern eher auf Augenhöhe miteinander gesprochen werden.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Der Essay ‚Blick einer neuen Medizinergeneration auf Telemedizin und das Arztsein im Internetzeitalter‘ steht online als PDF zur Verfügung:

Die Autoren:

Jesaja K. Brinkmann studierte Humanmedizin in Würzburg und Hamburg und befindet sich derzeit im 8. Semester. Er engagierte sich in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland im Bereich der medizinischen Ausbildung. Mit digitaler Medizin setzte er sich unter anderem durch seinen diesjährigen Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School und Praktika bei DrEd und CARDIOGO auseinander. Aktuell arbeitet er mit einem Berliner Arzt unter dem Namen HiDoc an eigenen medizinischen Apps.

Pascal Nohl-Deryk studiert im 11. Semester Humanmedizin an der Universität Bochum und hat gerade sein zweites Staatsexamen abgeschlossen. Neben dem Studium engagierte sich Pascal Nohl-Deryk bei der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) und der European Medical Students‘ Association (EMSA) im Bereich Gesundheitspolitik. In diesem Zusammenhang befasste er sich intensiv mit E-Health, Telemedizin und weiteren Themen wie dem Landärztemangel und Primary-Healthcare.

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