Für Pharmaunternehmen wird das Marktumfeld zunehmend komplexer: Gesetzliche Regulierungen, steigende Kosten, weniger Neuentwicklungen und nicht zuletzt die Digitalisierung erzwingen tiefgreifende Umbrüche.

Hanno Wolfram, Gründer der Firma Innov8 und Autor des Buches „KAM in Pharma 3.0“, berät Pharmaunternehmen während solcher Veränderungsprozesse. Ende Oktober diskutiert er als Veranstalter des Pharma-Colloquiums die Frage, wie das Pharma-Geschäftsmodell in fünf Jahren aussieht. Vorab hat er mit Luise Recktenwald darüber gesprochen, was in der Branche künftig über Erfolg und Misserfolg entscheiden wird.

Patient Outcome ist die Legitimation des Pharma-Außendienstes der Zukunft

 

Luise Recktenwald: Die zentrale Botschaft in Ihrem Buch „KAM in Pharma 3.0“ ist, dass im Pharmavertrieb ein grundlegender Wandel dringend überfällig ist. Wieso?

Hanno Wolfram: Wir sehen in den letzten fünf Jahren, dass die Reduktion von Außendiensten auf der ganzen Welt zunächst den Umsatz nicht negativ beeinflusst. Der Einfluss des Außendienstes auf den Umsatz ist heute geringer als früher.

Das „Verkaufen wollen“ ist Mitte der 80er Jahre erst in den Pharmaaußendienst eingeführt worden. Es kann durchaus sein, dass das auch einmal funktioniert hat. Es gab Hinweise, dass mehr Besuche zu mehr Umsatz führten. Inzwischen hat sich dieses Modell gedreht, weil wir heute makroökonomisch in Käufer-Märkten sind und nicht mehr im Verkäufer-Markt.

Luise Recktenwald: Wo sehen Sie dann noch die Legitimation des Außendienstes?

Hanno Wolfram: Der Außendienst hat in Zukunft mehrere Legitimationen. Kurzer Exkurs: Es gibt aus meiner Sicht keine andere Industrie mehr, die einen Außendienst ungebeten zu sogenannten Kunden schickt. Das mag ein Hinweis sein. Es gibt heute auch eine große Zahl von Geschäftsmodellen, die ohne unmittelbare menschliche Face-to-Face Kontakte oder Touch Points funktionieren, nehmen Sie ein beliebiges digitales Geschäftsmodell als Beispiel.

Es gibt aber Unternehmen, die viele Außendienstler haben und die Erhebliches für das Unternehmen und dessen Kunden leisten könnten. Im Pharmaaußendienst gibt es eine ganze Anzahl von Möglichkeiten, von der Beratung der Patienten bis zur Unterstützung der Ärzte bei der Anwendung von ‚Digital‘. Es gibt viele Möglichkeiten, was ein Außendienst in Zukunft tun kann, um, –  und das ist die zwingende Veränderung der Ziele – den Patient-Outcome zu verbessern. Und durch besseren Outcome wird sich – und nur in dieser Reihenfolge wird ein Schuh draus, der Umsatz mehren.

Der Nutzen von Tablets bei Arztbesuchen hängt von den Zielen ab

 

Luise Recktenwald: Apropos ‚digital‘: Wie bewerten Sie den Einsatz von Tablets bei Arztbesuchen? Sehen Sie da einen Nutzen?

Hanno Wolfram: Der Einsatz von Tablets hätte einen großen Nutzen, wenn das Ziel des Einsatzes ein anderes wäre. Die Technik schafft grundsätzlich ja nur Flexibilität, auf den jeweiligen Gesprächspartner eingehen zu können. Das Ziel darf nicht wie bisher sein, Produkte an den Mann zu bringen, dabei 70 % der Redezeit zu haben und den Arzt nur ein paar Sekunden pro Besuch zu Wort kommen zu lassen. Solange dies der Fall ist, wird die Nutzung einer anderen Technik keinen relevanten Beitrag leisten.

In einem Projekt mit einem Unternehmen haben wir kürzlich ein neues Messkriterium für den Außendienst eingeführt: Den Anteil der Gesprächszeit, die beim Arzt liegt. Der Zielwert ist 70 %. Sprich, von den drei Minuten soll der Arzt 70 % der Zeit reden.

Solange mein Gegenüber nur meinen Botschaften zuhören soll, selbst aber nicht sprechen darf, kann ich weder seinen Bedarf erkennen, noch kann ich ihm irgendeinen Wert liefern.

Die größte Chance der Digitalisierung für Pharma: Vertrauen aufbauen und mit verlässlichen Informationen stärker präsent sein

 

Luise Recktenwald: Wie können denn dann Pharmaunternehmen Ihrer Meinung nach die Digitalisierung am besten für sich nutzen, wo sehen Sie die größten Chancen?

Hanno Wolfram: Da gibt es viele. Alles was heute über viele digitale Kanäle vermittelt und vor allem dialog-orientiert getan werden kann, macht ganz viel Sinn. Praktisch zu null Kosten.

Allerdings müssen die Adressaten meines digitalen Kanales in der Lage sein, digitale Kommunikationswege zu nutzen. Zweitens muss ich deren Interessen und Bedürfnisse treffen, damit sie sich mir überhaupt nähern. Jede Art von Werbung löschen wir selbst auch, warum sollten Ärzte das nicht tun?

Luise Recktenwald: Was sind für die Pharmaunternehmen die größten Risiken bei der Digitalisierung?

Hanno Wolfram: Die größten Risiken bei der Digitalisierung sehe ich heute eher für die Patienten, die teilweise völlig verloren sind in einem digitalen Nirwana. Wenn Patienten recherchieren, geistert unglaublich viel Halbwahres, Dogmatisches oder Esoterisches durch die Netze, mit denen sich dann Ärzte in Patientengesprächen auseinandersetzen müssen. Bisher hilft den Patienten keiner, sich zurechtzufinden. Warum leistet so etwas nicht ein Pharmaaußendienst?

Luise Recktenwald: Ihrer Meinung nach wäre es also von Nöten, dass die Pharmaindustrie mit sachlichen und stichfesten Informationen stärker präsent wäre.

Hanno Wolfram: Zunächst müssen Pharmaunternehmen ihre Reputation verbessern. Wenn ich einem Unternehmen nicht vertraue, werde ich mich nicht an ein Unternehmen wenden. Das gilt für Pharma genauso wie für Automobilunternehmen oder eine Bank. Solange die Reputation so miserabel ist, wird die Kontaktaufnahme mit der Pharmaindustrie eher unwahrscheinlich bleiben.

Luise Recktenwald: Dann wäre der erste Schritt auf jeden Fall die Reputation und die Vertrauenswürdigkeit zu verbessern?

Hanno Wolfram: Ganz genau. Ohne Vertrauen wird sich nichts ändern. Vertrauensbildung wird es nicht mit oder über Verbände geben. Dies kann nur im einzelnen Unternehmen stattfinden. Existierendes Vertrauen ist in allen Industrien Teil des Markenkerns, kein Lippenbekenntnis.

Wenn man für den Patienten etwas tut, tut man etwas für die Aktionäre

 

Luise Recktenwald: Gemeinhin gilt ja die Pharmabranche eher als konservativ. Raten Sie mit Blick auf die Digitalisierung zu mehr Mut?

Hanno Wolfram: Konservativismus ist zunächst einmal nicht schlecht. Eine Industrie darf konservativ sein, indem sie das Bewahrenswerte auch bewahrt. Die Pharmaindustrie hat nach wie vor das Problem, dass sie Umsatz zum obersten Ziel erklärt. Dieses Ziel hindert die Pharmaindustrie an der sinnvollen Anwendung und Ausgestaltung anderer, auch digitaler Optionen. Solange es bei der Nutzung irgendeines Kanals nur darum geht, Geschäft zu machen und der Nutzer dies bemerkt, solange ist konservativ zu sein hinderlich.

Ich denke, das Ziel muss auf den Kopf gestellt werden. Und dafür gibt es Beispiele. Es gibt ‚First Mover‘ wie zum Beispiel Roch Doliveux von UCB, der gesagt hat „Wenn man für den Patienten etwas tut, tut man etwas für die Aktionäre“. In diesem Satz liegt eine zentrale Wahrheit. Die Reihenfolge steht zwingend fest

Um zukunftsfähig zu bleiben, muss die Pharmaindustrie ihre Verdienste besser kommunizieren

 

Luise Recktenwald: Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Herausforderungen, denen sich Pharmaunternehmen jetzt stellen müssen, damit sie zukunftsfähig bleiben?

Hanno Wolfram: Pharmaunternehmen haben in den letzten 100 Jahren zur Verlängerung des Lebens von Patienten Erhebliches geleistet. Und sie tun es noch immer. Die Menschheit in Mitteleuropa ist in ihrer gesamten Geschichte noch nie so gesund so alt geworden wie heute. Die Pharmaindustrie trägt ein gerüttelt Maß dazu bei. Das versäumt sie aber zu kommunizieren. Aus irgendeinem Grund ist ihr das bisher nicht gelungen und sie sollte dringend damit anfangen.

Pharmaunternehmen haben in den letzten 100 Jahren zur Verlängerung des Lebens von Patienten Erhebliches geleistet. Und sie tun es noch immer. Das versäumen sie aber zu kommunizieren.

Wenn wir die aktuelle Produktsituation anschauen, mit denen ein Pharmaunternehmen Geld verdienen kann, dann werden die Nischen kleiner. Wir reden zunehmend über OrphanDrugs und Rare Diseases. Und wir reden über Neueinführungen mit sehr eng begrenzten Patientenzahlen und immer noch versucht die Industrie diese Medikamente ‚nur‘ zu verkaufen, anstatt aktiv werthaltige Beiträge zur besseren Versorgung von Patienten zu leisten.

Lösungen finden, anstatt Produkte verkaufen: Hier braucht die Pharmaindustrie mehr Mut

 

Luise Recktenwald: Sie zitieren immer wieder das Zitat vom MSD-Gründer Merck: „Wir dürfen nie vergessen, dass Medizin für Menschen ist, sie ist nicht für den Gewinn. Der Gewinn kommt und wenn wir daran dachten, sind Gewinne nie ausgeblieben. Je mehr wir daran gedacht haben, desto besser wurden die Gewinne.“ Welche praktischen Implikationen sehen Sie denn darin für Pharmaunternehmen?

Hanno Wolfram: Es gibt eine ganz zentrale praktische Implikation, die bereits durch ‚First Mover‘ umgesetzt wird: GSK z. B. hat global das Thema Umsatz und Umsatzzahlen aus dem Außendienst und den Incentive-Systemen verbannt.

Solange der Außendienst ‚Umsatz‘ als Ziel hat, kann das, was Georg Merck 1954 gesagt hat, nicht stattfinden.

Ein Beispiel aus dem Automobilbereich: Kein Mensch kauft mehr ein Auto, sondern wir kaufen eine Mobilitätslösung. Wir kaufen Garantie, wir kaufen umfangreiche Angebote, wir kaufen Leasing. Jedes Autounternehmen ist eine Bank, bietet Finanzierungen. Das gekaufte Auto beinhaltet eine Versicherung und Serviceleistungen. Wir erwerben eine umfassende Mobilitätslösung. Die Frage „Wie komme ich morgens ins Geschäft und abends wieder nach Hause und wie in den Urlaub?“ – das kaufen wir und nicht mehr irgendein Auto. Pharma verkauft weiterhin nur ein Medikament.

 

Luise Recktenwald: Das heißt an dieser Stelle wäre dann mehr Mut angesagt.

Hanno Wolfram: Ganz sicher. Veränderung braucht Mut. Mut wird meist vom Markt belohnt. Differenzierung im Markt wird in der mittelfristigen Zukunft aber notwendig, da der Preis eines Arzneimittels in Erstattungsmärkten kein Differenzierungsgrund ist. Differenzierung im Markt findet zukünftig über Lösungsansätze zur Verbesserung von Patientenversorgung statt und nicht mehr über ein einzelnes Produkt.

Luise Recktenwald: Herr Wolfram, herzlichen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Hanno Wolfram, startete 1975 im Pharmaaußendienst in sein Berufsleben. Später war er in der Branche als Regionalleiter, Personalleiter und Länderleiter tätig.

Nach 22 Jahren Pharmaindustrie gründete Hanno Wolfram 1996 sein Unternehmen Innov8 und unterstützte seitdem Kunden in mehr als 25 Ländern bei Veränderungsprojekten. Im Januar 2015 erschien das weltweit erste, englischsprachige Buch zum Thema „KAM in Pharma 3.0“. Als Veranstalter des Pharma-Colloquiums am 27./28. Oktober diskutiert er mit Pharmaentscheidern die Frage „Wie sieht das Pharma-Geschäftsmodell in 5 Jahren aus?“.

 

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Nathalie Haidlauf
Nathalie Haidlauf
berichtet für coliquio Insights über die wichtigsten Marketing-Trends und liefert Inspirationen für die Pharmakommunikation der Zukunft.