Lange Zeit hatte die Pharmaindustrie ein erfolgreiches Businessmodell: Es war die Zeit der Blockbuster-Medikamente, in der ein erfolgreiches, patentiertes Medikament die Kosten für Jahre der Forschung und Entwicklung wieder einspielte und außerdem noch gute Gewinne versprach.

Inzwischen haben die meisten Pharmaunternehmen erkannt, dass ‚die Pille‘ allein nicht mehr ausreicht und sie neue Wege gehen müssen, um auch in der Zukunft erfolgreich zu sein. Seitdem ist „Beyond the Pill“ in aller Munde.

In vielen Fällen erschöpft sich „Beyond the Pill“ bisher jedoch in einzelnen, vom eigentlichen Geschäftsmodell unabhängigen Marketingmaßnahmen. Dabei könnte „Beyond the Pill“ viel mehr sein als ein paar Broschüren, Informations-Websites oder eine neue App, nämlich ein Ansatz für die Weiterentwicklung der Pharmaindustrie, um den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht zu werden.

Ein vielversprechender Ansatz:
‚Health as a Service‘

Pharmaunternehmen sollten Ihr Businessmodell neu denken und Medizin als Service verstehen. Pharmaunternehmen werden so zu Health Service Providern, die nicht länger ausschließlich für die Bereitstellung von Medikamenten bezahlt werden, sondern für die erreichte Gesundheit des Patienten. Dieser neue Ansatz wäre eine Antwort auf zwei massive Herausforderungen, mit denen die globalisierte Welt im Bereich der medizinischen Versorgung im Moment konfrontiert ist:

Mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten in Entwicklungsländern

In Entwicklungsländern ist vielerorts keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten für Patienten mit chronischen Krankheiten gegeben. Pharmaunternehmen könnten dieses Gap mithilfe Ihrer Ressourcen und Infrastrukturen schließen.

Mangelnde Adhärenz von Patienten in Industrienationen

In den Industrienationen könnten Pharmaunternehmen eine ganzheitliche Adhärenz-Strategie entwickeln. Patienten mit chronischen Krankheiten kann zu einem besseren Therapieerfolg verholfen und langfristige Gesundheit sichergestellt werden.

So erzielen Health Service Provider höhere Einnahmen

Mangelnde Adhärenz bei chronischen Krankheiten ist eine der größten Herausforderungen in den Industrienationen. Von allen ausgestellten Rezepten werden nur 50 – 70 Prozent in einer Apotheke abgegeben. Nur noch 25 – 30 Prozent der Patienten nehmen diese Medikamente korrekt ein und gerade einmal 15-20 Prozent gehen zu einem Arzt, um sich das Folge-Rezept zu holen. Die Folge sind abgebrochene Therapien und Mehraufwand in Form von Notfallmaßnahmen und Krankenhausaufenthalten.

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Bildquelle: 2015 Health Trends, GSW, S. 45

Pharma-Unternehmen gehen Einnahmen verloren, die sie bei einer korrekten Fortführung der Therapie verdienen würden. Teure Krankenhausaufenthalte und Notfallmaßnahmen belasten das Gesundheitswesen und führen es an den Rand seiner Kapazität. Und Patienten bezahlen mangelnde Adhärenz mit ihrer Gesundheit oder im schlimmsten Fall mit ihrem Leben.
Es ist also kein Wunder, dass Gesundheitssysteme Interesse daran haben, Maßnahmen zu fördern, die die Adhärenz steigern. Erfolgreich durchgeführte Therapien haben das Potential, die Kosten des Gesundheitswesens zu senken und gleichzeitig neue Einnahmequellen für Pharmaunternehmen zu schaffen. Verschiedene Studien haben das zum Beispiel für Schizophrenie (Gilmer, Dolder, Lacro, et al., 2004) und Type 2 Diabetes (Balkrishnan et al., 2003) gezeigt.

3 Gründe, weshalb der Patient Ihr Medikament nicht nimmt

Damit ein Pharmaunternehmen zum Health Service Provider werden kann, muss es den Patienten verstehen. Die Gründe für eine mangelnde Adhärenz sind vielschichtig. Zu den wichtigsten gehören (aus Martin et al., 2005):

Unzureichende Information

1. Patienten sind unzureichend informiert

über die Art und Wirkungsweise des Medikaments und die Krankheit an sich. Es fehlt das Verständnis dafür, dass Medikamente nicht abgesetzt werden dürfen, sobald die Symptome verschwinden. Im Patientengespräch wird statistisch gesehen nicht einmal 99 Sekunden lang über das Präparat gesprochen, nur 5,5 Sekunden davon über Adhärenz. (https://www.coliquio-insights.de/update-adhaerenz-patienteninfos/ )

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Bildquelle: 2015 Health Trends, GSW, S. 46
Fehlende Motivation

2. Patienten sind nicht motiviert

(oder einfach vergesslich): Medikamente verhindern unter Umständen zwar einen Ausbruch der chronischen Krankheit, womöglich fühlt sich der Patient bei Absetzen der Medikamente aber zuerst besser, da lästige Nebenwirkungen wegfallen. Der Patient setzt also eine kurzfristig höhere Lebensqualität über sein langfristiges Wohlergehen. Die psychologischen Gründe und mögliche Lösungsansätze erklärt der führende Behavioral Economist Dan Arialy in diesem Video „Doing the right things for the wrong reasons“

Mangelhafte Kommunikation

3. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patienten ist nicht ausreichend.

Das Vertrauen des Patienten in den Arzt ist entscheidend für eine erfolgreiche Therapie. Patienten, die das Gefühl haben, vom Arzt als individuellen Menschen wahrgenommen zu werden, verhalten sich adhärenter. Es lohnt sich also, wenn Ärzte ihre Patienten ermutigen aktiv an ihrer Gesundheit mitzuwirken.

Physician prescribing medicament

Wandel zum Health Service Provider: Ist Pharma startklar?

In Zeiten der digitalen Transformation und mithilfe der heutigen technischen Möglichkeiten sind Pharmaunternehmen bestens ausgestattet, diesen Herausforderungen zu begegnen:

Mit Mobiltelefonen und Wearable Devices tragen bereits heute viele Patienten wichtige Tools für eine erfolgreiche Therapie bei sich. Apps können den Patienten daran erinnern, Medikamente einzunehmen. Wohlbefinden und andere Parameter können dokumentiert werden. Zudem kann der Patient sich bei Bedarf über mögliche Nebenwirkungen informieren und Praxistipps erhalten.

Die Verbindung von Medikamenten mit Apps kann Therapien an die Bedürfnisse des Patienten individuell anpassen. Gamifikation und ‚Anreizsysteme‘ bei Therapietreue (vgl Dan Arialy, „Doing the right thing for the wrong reasons“) können über Apps gesteuert werden und sollen die Adhärenz erhöhen.

In Deutschland ist bereits die erste verschreibungspflichtige App verfügbar: Blue Star berät Patienten mit Typ 2 Diabetes mithilfe von Blutzucker-Werten und Therapieinformationen zu einem gelungenen Leben trotz Diabetes. Alternativ zu Apps bieten sich beispielsweise Websites an, auf die nur mit ärztlicher Genehmigung zugegriffen werden kann.

Zukünftig könnten Pharmaunternehmen bereits während ihrer klinischen Studien Erkenntnisse zu gesteigerter Therapietreue sammeln. Pharmaunternehmen sind so in der Lage, innerhalb kürzester Zeit umfangreiche Erkenntnisse über Adhärenz zu gewinnen. Sie könnten dann Service, Wearable und Präparat als Paket anbieten. Gerade bei chronischen Krankheiten, bei denen der Therapieerfolg maßgeblich vom Mitwirken des Patienten abhängt, versprechen solche ‚Around-the-Pill‘-Ansätze Erfolg. Beispielsweise hat Biogen letztes Jahr Fitbits in einer Studie zu Multiplen Sklerose erstmalig eingesetzt. Für die Therapie dieser Krankheit können Daten zu Bewegungsgeschwindigkeit und Schlafrythmus hilfreich sein. Mithilfe dieser Wearables konnten mehr Informationen gesammelt werden, als mit früheren Methoden.

Indem Pharmaunternehmen umfassende Adhärenz-Strategien entwickeln und bereitstellen, werden sie von reinen Arzneimittelherstellern zu Health Service Providern. Dadurch kann eine Win-Win-Situation geschaffen werden, die in besseren Ergebnissen für Patienten, das Gesundheitswesen und nicht zuletzt die Pharmaunternehmen besteht. Einnahmen werden neben dem Vertrieb von Präparaten zusätzlich durch „Service am Patienten“ generiert.

Medizin als Service ebnet den Weg für ungeahnte Innovation

Die größte Chance für einen Health Service Provider liegt nicht in einigen technischen Erfindungen, sondern im inhärenten Paradigmenwechsel: Der Fokus wechselt vom Produkt zum Patienten. Diese Veränderung in der Art und Weise, wie der Health Service Provider denkt und Entscheidungen trifft, eröffnet Möglichkeiten für bis jetzt noch nicht vorstellbare Innovation.

Auf dem coliquio-Summit 2015 sprach Martin Pattera über Innovation. Die wichtigste Erkenntnis aus diesem Vortrag ist:

  • „Menschen wollen keinen Bohrer kaufen. Menschen wollen ein Loch in der Wand. Innovation ist nicht die Lösung für ein Problem, sondern sie liegt darin, das Bedürfnis des Kunden zu verstehen und zu erfüllen“

    Martin Pattera coliquio Summit 2015

Ein Health Service Provider wird durch seine konsequente Ausrichtung auf den Patienten neue Wege und Businessmodelle entwickeln, um das Bedürfnis des Patienten zu stillen – frei nach dem Motto:
Patienten wollen keine Pille, sie wollen Gesundheit.

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