KI verschiebt den medizinischen Entscheidungsprozess: Patientinnen und Patienten kommen immer häufiger mit KI-gestützten Vorannahmen in die Praxis. Damit verändert sich, welche Informationen überhaupt sichtbar werden, wie ärztliche Entscheidungen vorbereitet werden und welche Rolle Healthcare-Unternehmen in diesem neuen Informationsraum spielen.

2026 wird zu einem Wendepunkt für ärztlichen Alltag und Healthcare-Marketing. Um zu verstehen, welche Entwicklungen Ärztinnen und Ärzte in den nächsten Jahren wirklich bewegen, haben wir mit Inga Bergen gesprochen. Sie ist Unternehmerin, Moderatorin und eine der bekanntesten Digital-Health-Expertinnen im deutschsprachigen Raum. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt sie sich mit der Frage, wie digitale Technologien medizinische Versorgung verändern – zwischen technologischem Fortschritt, neuen Formen der medizinischen Autorität und der Ökonomie der Aufmerksamkeit.

Im Live Talk am 09. Dezember 2025 diskutierte sie gemeinsam mit der coliquio-Geschäftsleitung über die wichtigsten Digital-Health-Trends, die primär-ärztliche Versorgung und darüber, wie KI heute bereits im Alltag eingesetzt wird und was das für Healthcare-Strategien bedeutet.

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„Im digitalen Zeitalter der KI ist Kontext die neue Währung. Ohne Kontextwissen sind medizinische Informationen nicht mehr einordbar. Die große Frage ist: Wie kann ich Inhalte so gestalten, dass sie im KI-System erscheinen – und gleichzeitig medizinisch korrekt sind? Da braucht es neue Denkweisen in der Industrie: mehr Offenheit, mehr Struktur, mehr Kontext. Das ist eine Herausforderung für Medical Affairs und Marketing, aber auch eine große Chance.“

Inga Bergen, Gründerin und Digital Health Facilitator

Von Dr. Google zu „Dr. KI“: Medizinische Autorität verschiebt sich

Inga Bergens Ausgangsthese ist radikal: In Zukunft ist nicht mehr der Arzt die erste Anlaufstelle, sondern der Algorithmus. Patientinnen und Patienten kommen schon heute mit vorgefertigten Diagnosen in die Praxis, die sie über KI-Tools oder Suchmaschinen erhalten haben. Die Rolle der Ärztin oder des Arztes verschiebt sich von der Detektivarbeit („Was haben Sie?“) hin zur Validierung („Hat die KI recht?“).

Für Marketing und Medical Affairs bedeutet das:

  • Informationen müssen so strukturiert sein, dass sie von KI gefunden, verstanden und korrekt wiedergegeben werden.
  • Sichtbarkeit entscheidet sich zunehmend in der KI-Antwort, nicht nur auf der eigenen Website.
  • Wenn nur 0,7 % der Nutzer auf Quellenlinks klicken, entsteht die eigentliche Reichweite vor dem Klick.

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Sie möchten tiefer einsteigen? In der Aufzeichnung finden Sie die komplette Diskussion und viele beantwortete Fragen aus dem Publikum.

Wie Ärztinnen und Ärzte KI heute nutzen – und wo noch Lücken sind 

Die Bitkom-Daten zeigen ein klares Bild:

  • In niedergelassenen Praxen nutzen 12 % bereits KI zur Diagnostik
  • In Kliniken liegt der Anteil bei 18 %, vor allem in der Bildgebung
  • Gleichzeitig sehen 78 % der Ärztinnen und Ärzte KI als große Chance

Die Stimmung ist also positiv: Es scheitert nicht am Willen, sondern an Rahmenbedingungen und Integration. Das zeigt auch die ARI-Studie 2025: 53 % der befragten HCPs nutzen KI bereits für Recherche, Informationsabgleich oder administrative Aufgaben – jedoch selten integriert im Behandlungspfad:

  • 37 % der Ärzt:innen nutzen KI bereits als Informationsquelle und Recherche-Tool
  • 19 % für administrative Aufgaben
  • 17 % für Diagnose und Früherkennung
  • 17 % für Therapieunterstützung
  • 6 % in Telemedizin und Patientenüberwachung
  • Gleichzeitig gibt 47 % an, KI noch nicht im beruflichen Kontext einzusetzen.

Strategisch bedeutet das: Der Einstieg in KI erfolgt über risikoarme Anwendungsszenarien, wie Informationszugang, Vorbereitung und organisatorische Prozesse. Das zeigt, wo das unmittelbare Potenzial für die Industrie liegt:

Niedrige Eintrittskomplexität: HCPs testen KI zuerst dort, wo der Nutzen schnell erlebbar ist und wenig regulatorisches Risiko besteht.

Konkreter Impact: Lösungen, die Zeit sparen, Informationsqualität erhöhen oder Dokumentation vereinfachen, erzeugen direkt Mehrwert.

Aufbau von Kompetenz: Fortbildungen zum kritischen Einsatz von KI sind der Schlüssel, um von der Recherche-Phase in klinische Anwendungsszenarien zu kommen.

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„Es ist ein reales Problem, dass viele hochwertige medizinische Inhalte, gerade aus der Industrie, in geschlossenen Systemen liegen: hinter Logins, in PDFs, in Portalen, die KI nicht crawlen kann. Und damit sind diese Informationen – so gut sie auch sein mögen – im digitalen Kontext einfach nicht mehr sichtbar. Und das bedeutet: Sie werden von Ärzt:innen nicht gefunden. Und sie landen auch nicht in den Antworten von KI-Systemen wie ChatGPT oder Perplexity.“

Katharina Radunz, VP Product & Marketing DACH

Welche Fachrichtungen KI besonders stark treiben

Wie stark KI den Arbeitsalltag prägt, unterscheidet sich deutlich nach Fachrichtung. Besonders datenintensive Disziplinen erwarten den größten Einfluss auf ihre Informationsrecherche. Laut der ARI-Studie 2025 sind es vor allem diese Fachrichtungen, die sich in Sachen KI-Nutzung hervortun:

  • 33 % der Gastroenterolog:innen und Dermatolog:innen nutzen KI bereits für Diagnostik & Früherkennung.
  • 27 % der Gastroenterolog:innen und Onkolog:innen setzen KI für Therapieunterstützung

Auch der coliquio Facharztreport 2024 macht den künftigen Einfluss von KI sichtbar: Mehrere Fachrichtungen rechnen damit, dass KI ihre berufliche Informationsrecherche künftig besonders stark prägen wird, darunter sind ebenso die Onkologie und Gastroenterologie, aber auch die Nephrologie. Auffällig ist: In Fächern mit komplexen Datensätzen (Bildgebung, Molekulardiagnostik) ist der erwartete Nutzen deutlich höher. Für die Industrie heißt das: Der Reifegrad ist fachrichtungsspezifisch.

Konsequenzen für Ihre Healthcare-Strategie 2026

Aus Zahlen, Thesen und Publikumsfragen lassen sich vier Handlungsfelder ableiten:

  1. In KI-Ökosystemen sichtbar werden: KI entscheidet, welche Informationen zuerst gesehen werden. Inhalte müssen maschinenlesbar sein: Strukturiert, präzise, aktuell.
  2. HCPs als Daten-Navigatoren stärken: KI nimmt HCPs ihre Erfahrung nicht ab, sondern macht sie wirksamer. Weiterbildung sollte deshalb zeigen, wie KI klinische Entscheidungen unterstützt – nicht nur, dass sie verfügbar ist.
  3. Transparenz bei Daten und Governance: Bias, Datensicherheit und Quellen werden zu Differenzierungsmerkmalen. Vertrauensbildung wird ein strategisches Asset.
  4. KI als Kommunikationsraum denken: Wenn 45 Prozent KI nutzen und 55 Prozent den Antworten vertrauen, entsteht ein neuer Kanal. Kommunikation findet in Systemen, nicht nur über Kanäle statt.
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„Wir müssen als Industrie lernen, Content nicht mehr nur aus der internen Perspektive zu denken – also was wir sagen wollen oder dürfen –, sondern aus der Perspektive der Ärzt:innen: Was brauchen sie konkret in ihrem Arbeitsalltag? Wenn ich heute mit Menschen aus Medical Affairs spreche, merke ich: Das Verständnis ist da, aber die Strukturen und Prozesse sind oft noch nicht so weit. Genau da setzen wir an – mit Content, der evidenzbasiert, relevant und gut auffindbar ist.“

Kerstin Dehn, VP Operations & Strategy DACH

Mini-FAQ – die zentralen Fragen aus dem Talk

Entscheidend ist der Unterschied zwischen öffentlichen LLMs und regulierten Anwendungen. Kliniknahe KI braucht geprüfte Datenquellen, medizinische Governance und klare Verantwortlichkeiten.

Im Talk wurde deutlich: Generative KI-Modelle unterscheiden sich stark bei medizinischen Themen. Allgemeine Modelle wie Google Gemini können häufiger halluzinieren, während Tools wie Perplexity bei Faktenrecherche zuverlässiger arbeiten. Für medizinische Fragestellungen eignen sich spezialisierte Lösungen besser – wie zum Beispiel das AI-Tool von Amboss. Die Auswahl des Tools ist entscheidend: Sie reduziert Risiken und erhöht die Verlässlichkeit der Antworten. Aufklärung über Unterschiede wird deshalb ein wichtiger Bestandteil der Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten.

Ja, wenn Datenlücken bestehen. Besonders sichtbar in der Frauenmedizin. Modelle müssen bewusst mit diverseren Datensätzen trainiert und kritisch geprüft werden.

Ein Grundverständnis, ja. Entwicklerexpertise, nein. Aufgabe von Industrie und Fortbildung ist es, pragmatische Orientierung zu geben und geeignete Tools verfügbar zu machen.

Was sich der Arzt-Patient-Beziehung verändert

Inga Bergen skizziert für die Zukunft eine veränderte Beziehung zwischen Patient, Technik und medizinischer Autorität. Drei Entwicklungen treten deutlich hervor:

1

Der menschliche Faktor gewinnt an Bedeutung

Wenn Diagnostik und Dokumentation zunehmend automatisiert werden, steigt der Wert dessen, was nicht automatisiert werden kann: Zeit, persönliche Zuwendung und klinische Erfahrung. Menschliche Interaktion wird zum qualitativen Unterscheidungsmerkmal.

2

Digitale Bindung entsteht

Patientinnen und Patienten interagieren immer häufiger mit Apps oder KI-basierten Assistenten. Vertrauen verlagert sich damit teilweise auf digitale Systeme, die kontinuierlich präsent sind – und nicht nur auf einzelne Personen im Versorgungsteam.

3

Generative KI verändert die Informationsarchitektur

Fragen werden heute eher an KI-Chatbots gestellt als in klassische Suchmaschinen eingegeben. Nutzerinnen und Nutzer erwarten direkte Antworten statt Linklisten. Damit werden KI-Modelle zu Gatekeepern zwischen Wissenschaft, Unternehmen und Öffentlichkeit. Sichtbarkeit entsteht zunehmend über strukturierte, maschinenlesbare Daten und über die Optimierung von Inhalten für KI-Systeme, nicht mehr über traditionelle SEO-Mechaniken.

Fazit

Digitalisierung und speziell KI verändern das Gesundheitswesen gleichzeitig auf mehreren Ebenen: Informationswege, Erwartungen, Rollenbilder und Geschäftsmodelle. Für Healthcare-Unternehmen kommt es 2026 darauf an, diese Dynamik nicht isoliert zu betrachten, sondern als System zu verstehen.Wer KI als neuen Kommunikationsraum ernst nimmt, Versorgungspfade versteht und HCPs in ihrer Rolle als Daten-Navigatoren unterstützt, bleibt relevant – auch in einer Welt von „Dr. KI“.

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