In welchem Gesundheitssystem auf dieser Welt werden die neuesten Technologien und Ideen als erstes fester Bestandteil des Systems? Naheliegend wären doch die am meisten entwickelten Länder – USA, Kanada oder vielleicht unsere nördlichen Nachbarn hier in Europa? 

Interessanterweise beobachten wir das nicht. Neue Technologien (wie Telemedizin) oder neue Strukturen im Gesundheitssystem (wie Value Based Medicine) werden in vielen Fällen zuerst in Entwicklungsländern Teil der medizinischen Versorgung.

  • Disruption entsteht in Ländern, in denen der Bedarf am größten ist. Wo kein Geld und wenig Mediziner vorhanden sind, aber jeder ein Mobiltelefon hat, ist das größte Potential.

    Bart de Witte IBM Deutschland GmbH / Director Digital Health DACH

Entwicklungsländer sollen und können nicht den Weg einschlagen, den das Gesundheitssystem in entwickelten Ländern gegangen ist. Deswegen „leapfroggen“ sie. Diese Länder nutzen den Stand der heutigen Technik und entwickeln ein effizienteres Gesundheitssystem, das ähnliche Ergebnisse mit weit weniger Kosten ermöglicht und die Ineffizienzen der gewachsenen Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern umgeht.

Was ist Leapfrogging?

Würden Entwicklungsländer den gleichen Weg der Industrienationen gehen, hätten sie nicht nur eine viel langsamere Entwicklung: Experten befürchten auch, dass sich diese Länder in noch größere ökonomische Schwierigkeiten manövrieren würden, als die entwickelten Länder heute bereits haben. Ein Beispiel ist die Anzahl der Ärzte: Auf durchschnittlich 100 Ärzte in den OECD Ländern, kommen in Nigeria nur 14. Um die gleiche medizinische Versorgung aufzubauen, müsste ein Land wie Nigeria 51 Milliarden US-Dollar investieren – das sind ca. 20 % ihres BIP und das Zehnfache ihres Gesundheitsbudgets.

Die Lösung für diese Probleme ist Leapfrogging. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass bestimmte Entwicklungsstufen einer Technologie übersprungen werden, die vorher unerlässlich waren. Das heißt, ein Land nutzt eine Kombination aus neuer Technologie, neuen Möglichkeiten der Organisation oder neue Denkmuster, um die Entwicklung eines Systems zu beschleunigen.

Ein berühmtes Beispiel ist der Ausbau des Mobilfunknetzes vor dem klassischen Telefonnetz. Afrika oder auch Indien investieren kein Geld mehr in teure flächendeckende Telefonnetze, da die Handynetze dieses überflüssig gemacht haben. Ein weiteres Beispiel findet sich darauf aufbauend in der afrikanischen Finanzbranche. Die meisten Menschen dort haben nur sehr limitierten Zugang zu lokalen Banken und daher kein Bankkonto. Doch anstatt auf die lokale Bankfiliale zu warten, nutzen Millionen von Menschen dort ihre Mobiltelefone für Bankgeschäfte, um so alles zu bezahlen – von Versicherungsbeiträgen bis zu Stromrechnungen. 2012 hatten sich bereits 98 Millionen Menschen bei mobilen Finanz-Dienstleistungen registriert, die höchste Zahl einer Region überhaupt.

Leapfrogging in den Gesundheitssystemen von Entwicklungsländern

Eine neue Gesundheitsarchitektur in Indien.

Die Gesundheitssysteme in Industrienationen sind technisch auf einem hohen Stand, tragen aber aufgrund ihrer langen Entwicklungsgeschichte eine Vielzahl an organisatorischen Ineffizienzen mit sich. Ein Land wie Indien kann sich das nicht leisten. Anstatt den gleichen Pfad zu gehen, den Industrienationen bereits gegangen sind, baut Indien ein von Grund auf effizienteres System auf. Mit diesem kann Indien einen Großteil an medizinischer Versorgung bei gleicher Qualität ermöglichen, aber mit bis zu 95 % Kostenersparnis im Vergleich zu entwickelten Ländern. Die Behandlungen reichen dabei von der Versorgung von Schwangeren bis zu Herz-OPs.

Das System in Indien beruht auf drei Prinzipien:

1. Viele lokale Niederlassungen und wenige spezialisierte Zentren (Hub-and-Spoke-Set-up)

Anbieter in Indien streben danach, einen Großteil der medizinischen Grundversorgung direkt in den Dörfern zu leisten. Nur die Patienten, denen dort nicht geholfen werden kann, werden an spezialisierte Zentren verwiesen, die teurer im Unterhalt sind.

2. Maximale Nutzung medizinischer Geräte

Das Ziel des zweiten Prinzips ist es, medizinisches Gerät so effizient wie möglich zu nutzen, indem eine maximale Auslastung sichergestellt wird. Das erreichen Gesundheitsanbieter in Indien zum einen, indem sie teure medizinische Gerätschaften in den wenigen spezialisierten Kliniken bündeln und zum anderen durch eine Rotation von Geräten in den lokalen Niederlassungen der Dörfer.

3. Maximierung der Produktivität von medizinischem Personal

Außerdem wird angestrebt, die Produktivität von medizinischen Angestellten zu maximieren. Nicht durch mehr Arbeitszeit, sondern durch eine möglichst effiziente Gestaltung dieser. Ziel ist es, die Expertise optimal mit den Anforderungen abzustimmen. So soll verhindert werden, dass medizinisches Personal Aufgaben erledigt, für welche es eigentlich überqualifiziert ist. Ein Beispiel ist das Unternehmen Fortis Healthcare, das einige seiner Spezialisten in „Kommandozentralen“ konzentriert, um dort Patienten mittels Telemedizin zu behandeln und so Diagnosen zu stellen.

Mithilfe von Technologie die Ärzte-Knappheit überwinden.

Ein weiteres Beispiel von Leapfrogging, das dieses Mal auf den technologischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts beruht, findet sich in Uganda. Um die Müttersterblichkeitsrate in Entwicklungsländern zu verringern, arbeiten dort öffentliche, private und non-profit Stakeholder an gemeinsamen Lösungen für dieses Problem. Eine Initiative von Phillips Healthcare und der NGO „Imaging the world“ hat spezielle Ultraschall-Screenings entwickelt, die vor allem in ländlichen Gebieten in Uganda zum Einsatz kommen. Die Geräte sind einfach zu benutzen und liefern medizinisch genaue Ergebnisse zu niedrigen Preisen. Im nächsten Schritt wird lokalen Krankenschwestern in drei Tagen der Umgang mit diesen Geräten gezeigt. Die Bilder jeder Ultraschall-Untersuchung werden an einen der nur 34 trainierten Radiologen in Uganda gesendet, der per Telemedizin eine Diagnose durchführen kann. So kann die Expertise der Radiologen um ein Vielfaches mehr Menschen zugänglich gemacht werden, als es durch klassische Möglichkeiten der Fall wäre.

Erste Ergebnisse sprechen für das Projekt. Bei 16 % der Frauen half die Untersuchung dabei, notwendige nächste Schritte in die Wege zu leiten. Das waren zum Beispiel weitere Screenings, Ernährungsumstellungen oder eine professionelle Begleitung der Geburt (keine Selbstverständlichkeit in Uganda).

Leapfrogging als Inspiration

Nicht nur einfach den Weg zu gehen, der bereits gegangen worden ist, sondern mit den technologischen Möglichkeiten von heute auf der grünen Wiese zu starten, um etwas Besseres zu entwickeln, das ist Leapfrogging. Für die Stakeholder der entwickelten Nationen geht es jetzt natürlich nicht darum, diese neuen Systeme zu kopieren – das wäre ein Schritt zurück. Aber der Blick über den Tellerrand lohnt sich trotzdem, öffnet die Augen und gibt Ideen, wie auch die Herausforderungen in den entwickelten Ländern angegangen werden können.

Auf dem diesjährigen coliquio Summit hat Bart de Witte, Director Digital Health bei IBM, in seinem Vortrag gezeigt, welche Auswirkungen KI im Gesundheitswesen heute hat und welche Auswirkungen dies auf die medizinische Versorgung in diesen Ländern haben wird.

Diese Beiträge könnten Sie auch interessieren

Hinterlassen Sie einen Kommentar
E-Mail-Adressen werden nicht veröffentlicht.

Ich möchte Benachrichtigungen erhalten bei weiteren Kommentaren.