Vor zwei Jahren sprach Dr. Sven Jungmann auf dem Coliquio Summit 2022 “What’s Next” über die tektonischen Verschiebungen im Gesundheitswesen. Er prognostizierte, dass Künstliche Intelligenz (KI) und andere digitale Technologien das Potenzial hätten, die Branche grundlegend zu verändern. Doch wie steht es heute um diese Vorhersagen?  

Wir haben den Arzt Dr. Jungmann, DeepTech-Unternehmer und Buchautor, um ein Update zu seinen damaligen Thesen gebeten. Erfahren Sie in zwei äußerst lesenswerten Teilen, welche Fortschritte die Branche seither erlebt hat (und wovon sie unberührt scheint) und wie er die Perspektiven für die Zukunft neu bewertet. 

Teil 1 (hier geht es zu Teil 2)

Die 3 Säulen des Kommunikationserfolges

Von Dr. med. Sven Jungmann 

Auf der “What’s Next?” 2022 ging es in meiner Keynote um mehrere tektonischen Shifts, die unser Gesundheitswesen grundlegend verändern. Allen voran hat ChatGPT das Internet im Sturm erobert. Die Abkürzung GPT steht für „Generative Pre-trained Transformer„, ein spezielles Sprachmodell. Es könnte auch für „General-Purpose Technology“ stehen: eine bahnbrechende Innovation, die darauf abzielt, die Produktivität in einer Vielzahl von Branchen und Berufen zu steigern, ähnlich wie Dampfmaschinen, Elektrizität und Computer. 

1995 beschrieben Timothy Bresnahan von der Stanford University und Manuel Trajtenberg von der Universität Tel Aviv die Merkmale, die eine General Purpose Technologie ausmachen: Sie muss in vielen Branchen eingesetzt werden können, ein inhärentes Potenzial für kontinuierliche Verbesserungen haben und Folgeinnovationen auslösen. 

Ist Generative KI die neue Dampfmaschine? Zumindest ist sie breitenwirksam. 

Fast zwei Drittel der Befragten einer aktuellen Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey gaben an, dass ihr Unternehmen Generative Künstliche Intelligenz wie ChatGPT „regelmäßig” einsetzt, fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Einem Bericht von Microsoft und LinkedIn zufolge nutzen 75 % der „Wissensarbeiter” diese Technologie. Die Menschen leben bereits in einer KI-Welt. Auch in der medizinischen Fachliteratur findet man zunehmend hochkarätige Publikationen zur Anwendung von generativer KI, erklärbarer KI und multimodaler KI im klinischen Kontext. Es entstehen bereits etliche Folgeinnovationen, die auf diesen neuen Formen der KI basieren. 

Aber dennoch fühlt sich der Alltag im Gesundheitswesen noch weitestgehend so an wie vor zwei Jahren, als wir auf Coliquios Summit in Berlin zusammenkamen. Wo bleibt denn nun die auf dem Coliquio Summit 2020 vorhergesagte Revolution? 

Bleibt die Revolution aus? Oder verspätet sie sich nur – wie so oft. 

Was wir aus der Geschichte lernen: Selbst die mächtigste neue Technologie braucht Zeit, um die Wirtschaft zu verändern. James Watt patentierte seine Dampfmaschine 1769, aber erst in den 1830er Jahren überholte die Dampfkraft in Großbritannien und in den 1860er Jahren in Amerika das Wasser als industrielle Antriebskraft. Im Fall der Elektrifizierung wurden die wichtigsten technischen Fortschritte alle vor 1880 erzielt. Doch das Produktivitätswachstum in den USA verlangsamte sich tatsächlich zwischen 1888 und 1907. Und erst Mitte der 1990er Jahre kam es in Amerika zu einem Produktivitätsschub, der auf Computer zurückzuführen war – Jahrzehnte nach der Erfindung des ersten Computers. 

Für diese späten Effekte gibt es Erklärungen:

  1. Es braucht Zeit, bis Innovationen wirklich optimal auf die wichtigsten Anwendungen angepasst sind. Frühe Dampfmaschinen waren extrem ineffizient und verbrauchten unerschwinglich viel Kohle. Ähnlich ist es mit der KI: Der hohe Bedarf treibt die Kosten für Rechenleistungen in die Höhe und auch der Energieverbrauch wird zur Herausforderung. Derzeit verbrauchen Rechenzentren weltweit 1–2 % des gesamten Stroms, doch dieser Anteil wird bis zum Ende des Jahrzehnts voraussichtlich auf 3–4 % steigen. Außerdem werden sich die CO₂-Emissionen von Rechenzentren zwischen 2022 und 2030 mehr als verdoppeln.
  2. Es braucht Zeit, bis man wirklich verstanden hat, wie man Innovationen in den Alltag integriert. Gerade in der Medizin gibt es viele Herausforderungen, die für uns besonders relevant sind. An gute Trainingsdatensätze zu kommen ist oft schwierig, Datenschutz und ‘Bias’ sind häufige Sorgen und wir müssen bereit sein, unsere Versorgungspfade grundlegend neu zu denken. 

Wann springen wir „mit dem Rücken zuerst“? Lieber Fosbury Flop statt KI-Flop. 

In diesem Zusammenhang erzähle ich in meinem neuen Buch “Wie gesund wollen wir sein?” gerne die Geschichte vom Fosbury Flop. Diese Hochsprungtechnik, benannt nach dem amerikanischen Leichtathleten Dick Fosbury, hat den Hochsprung revolutioniert. Mitte der 1960er Jahre begann Fosbury anders zu springen als alle anderen: rückwärts. Bis dahin dominierte der Straddle-Stil, bei dem die Athleten seitlich über die Latte sprangen – eine Technik, die entstand, als es noch keine Matten hinter der Latte gab.  

Mit der Einführung der dicken Matten überlegte Fosbury, ob es nicht effizienter wäre, rückwärts zu springen. Also sprang er mit dem Rücken zur Latte, glitt darüber und erreichte ungeahnte Sprunghöhen, da der Körper weniger Kraft benötigte. Diese Technik wurde bald von anderen Athleten übernommen und setzte sich endgültig durch, als Fosbury 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko Gold gewann. Es dauerte allerdings wieder einmal viele Jahre ab Einführung der Matten, bis jemand auf die Idee kam, Dinge anders zu tun. 

Die Lehre aus dieser Geschichte ist, dass wir oft zu lange in bestehenden Mustern denken und es oft einer Person bedarf, die versteht, dass sich die Rahmenbedingungen verändert haben und es an der Zeit ist, Dinge neu zu denken. Und auch diese frische Denke brauchen wir nun im Gesundheitswesen, jetzt wo wir zunehmend generative KI, Wearables, und Longitudinaldaten von Patienten haben. 

  • Jeder Moment, den wir die Innovation im Gesundheitswesen hinauszögern, bedeutet einen Kompromiss bei der Patientensicherheit und der Qualität der Versorgung.

    Dr. Sven Jungmann

Die Zukunft ist schon da? Nur nicht im Gesundheitswesen, eilt ja nicht … 

Es gibt diesen Witz über die Stadt Wien: „Wenn die Welt untergeht, zieh nach Wien, denn dort passiert alles 40 Jahre später“ – mit der gleichen Logik könnte man sich genauso gut in einem deutschen Krankenhaus verstecken.  

Ärgerlich ist, dass unser Zögern beim Einsatz neuer Technologien im Gesundheitswesen täglich Menschenleben kostet. Es fehlt das Bewusstsein für die Dringlichkeit. Gesellschaftliche Veränderungen wie der demografische Wandel, Migrationsströme, globale Herausforderungen wie Pandemien und regionale Kriege und ein hoch frustriertes Gesundheitspersonal erfordern eine flexible und zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung. 

Es würde schon reichen, wenn wir die Technologien, die wir im Alltag selbstverständlich nutzen, auch im Krankenhaus einsetzen würden. Stattdessen ist der Gebrauch von Mobiltelefonen in einigen Kliniken verboten. Ich kenne Ärzte, die ihre Krankenhaussoftware als Kündigungsgrund genannt haben und die meisten Einrichtungen arbeiten immer noch mit Faxgeräten.  

Das System ist träge, zum Teil wegen des immensen bürokratischen Aufwands, fehlender zeitlicher und finanzieller Ressourcen, mangelnder digitaler Kompetenz und leider auch vieler Partikularinteressen, die einer Veränderung entgegenstehen. 

Über Dr. Sven Jungmann

Dr. Sven Jungmann ist Arzt und DeepTech-Unternehmer. Mit seinem Team entwickelt er Softwarelösungen für medizinische Geräte, damit diese die neuesten Datenlösungen und künstliche Intelligenz sicher nutzen können. Das Gerät befindet sich derzeit in einer unabhängigen klinischen Studie. Darüber hinaus hält Jungmann regelmäßig Vorträge zum Thema Innovation und hat kürzlich ein Buch über die Perspektiven unseres Gesundheitssystems bei der Verlagsgruppe Penguin RandomHouse veröffentlicht. Er studierte nicht nur Medizin, sondern auch Public Health, Public Policy und Entrepreneurship in London, Oxford und Cambridge. 

Unser Zwischenfazit: 

Die bisherigen Entwicklungen zeigen, dass technologische Innovationen wie die Generative KI zwar große Potenziale bergen, aber ihre flächendeckende Umsetzung im Gesundheitswesen noch auf sich warten lässt. Die Geschichte lehrt uns, dass selbst die mächtigsten Technologien Zeit benötigen, um tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen. Geduld, gezielte Anpassungen und der Abbau von Hindernissen wie hohen Kosten und fehlender Integration in den Alltag müssen uns gelingen, um die notwendige Transformation tatsächlich zu erleben. Doch wie lassen sich diese Herausforderungen überwinden, und welche neuen Chancen ergeben sich auf dem Weg dorthin? Im zweiten Teil beleuchtet Jungmann die aktuellen Trends und zeigt, wie das Gesundheitswesen von diesen Innovationen profitieren kann. 

Foto Titelbild: Frank Nürnberger 

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Kristina Lutilsky
Kristina Lutilsky
ist Redaktionsleiterin von coliquio Insights und berichtet als Content & Communications Spezialistin über wirksames Healthcare Marketing sowie die spannendsten Trends im Gesundheitswesen.