Was bewegt sich derzeit im Gesundheitsmarkt? Wer treibt Innovationen voran und welche disruptiven Unternehmen werden die Spielregeln im Healthcare-Markt verändern? 

Wir haben mit Dr. Tobias Gantner, Geschäftsführer der Healthcare Futurists, auf der coliquio Breakfast Lounge in Köln gesprochen. Die Healthcare Futurists verstehen sich als Think Tank und Make Tank für Beweger und Erneuerer im Gesundheitswesen. Im ersten Teil reden wir mit Dr. Gantner über Innovationen im Gesundheitsmarkt, im zweiten Teil geht es darum, wie sich die Beziehung zwischen Arzt und Patient verändert und welche Rolle das Patienten-Empowerment spielen wird:

Welche Trends werden in diesem Jahr auf uns zukommen?

In Deutschland hängt viel von der Wahl ab. Bis dahin gehe ich nicht davon aus, dass im gesundheitspolitischen Bereich viel passieren wird. Im Moment ist ein Verbot des Versands rezeptpflichtiger Arzneimittel im Gespräch. Ich glaube nicht, dass sich dort bis September etwas tun wird. Viel wichtiger sind die Entwicklungen, die sich aus den Innovationsfonds ergeben und wie sich die Start-ups entwickeln, die aus diesen Fonds finanziert werden. Wahrscheinlich wird es immer wieder Nachrichten von amerikanischen Start-ups geben, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Eine Sache, die ich persönlich spannend finde, ist ein Projekt aus den USA namens Forward, das von Alumni aus den Unternehmen Uber und Google gegründet wurde: Eine digitale, vollautomatisierte Praxis und damit ein Modell, das die klassische Praxis von heute auf den Kopf stellen kann. Die Website ist noch etwas kryptisch. Ich werde mir das im Laufe des Jahres einmal persönlich in San Francisco anschauen.

Deutschland ist gerade im Gesundheitsbereich ein Markt mit vielen Regularien. Wie wirkt sich das auf Innovation aus?

Wir sind sehr stark international aufgestellt und Deutschland ist für uns ein Markt unter vielen. Deutschland ist nicht per se innovationsfeindlich, die meisten der Gesetze haben ihre Berechtigung und schützen den Patienten. Das heißt aber, dass Deutschland in bestimmten Bereichen nicht der First-Mover-Markt sein wird. Daraus ergeben sich Vorteile, weil so manche Lektion nicht selbst gelernt werden muss, sondern wir bei Version 2.0 oder 3.0 der jeweiligen Entwicklung einsteigen können. Gleichzeitig bedeutet das Nachteile, weil Deutschland von gewissen First-Mover-Vorteilen nicht profitieren wird. Deswegen ist Innovation in Deutschland wichtig. Wir versuchen sogenannte Hackathons (Veranstaltungen, bei denen Geschäftsideen und Produkte innerhalb eines „Marathons“ programmiert werden; Anm. d. Autors) auch in Deutschland publik zu machen. Deutschland muss attraktiver werden für Start-up Gründungen und auch Entrepreneurship, das ist hier noch etwas schwierig. Wir haben gerade in UK ein Start-up gegründet. Das funktioniert, indem man nur ein Britisches Pfund zahlt und Sie müssen für die Gründung nicht einmal persönlich vor Ort sein. Gründungen in Deutschland sind da eher eine schwierigere Angelegenheit. Und dennoch: Es scheint so, als steuerten wir auf eine Gründerzeit 2.0 zu.

Wie sehen Sie die Beziehung zwischen deutschen und ausländischen Firmen, die in diesen Markt vordringen wollen?

Deutschland hat es recht komfortabel, da wir der größte Markt Kontinental-Europas sind. Das heißt, wir sind für alle Firmen interessant, die in Europa aktiv werden wollen und gleichzeitig sind wir groß genug, dass sie sich unseren Spielregeln anpassen müssen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten für Partnerschaften zwischen den Firmen, die bereits in Deutschland agieren und mit den Regularien vertraut sind und denen, die mit innovativen Lösungen in den deutschen Markt vordringen wollen. Das Gesundheitsministerium hat den klaren Standpunkt, keine Institution zur Start-up Förderung zu sein. Unterstützung ja, aber keine gezielte Förderung. Das macht es für Start-ups natürlich etwas schwerer, wie auch beispielsweise für interessierte Versicherer aus dem GKV-Bereich. Ich glaube aber, dass sich die Services und Produkte, die einen Mehrwert für den Kunden bieten, ohnehin durchsetzen werden. Es gibt zum Beispiel diverse Termin-Programme für Arztpraxen, einige davon laufen sehr gut, andere nicht. Dort wird in den meisten Fällen der Markt entscheiden. Es sei denn, der Staat greift ein und exerziert ein Monopol, das passiert ja auch häufiger.

Wer treibt Innovation in Healthcare – sind es die Bedürfnisse des Patienten?

Ja, in erster Linie sind es die digitalen Möglichkeiten für Patienten. Die meisten von uns haben ein Smartphone und somit tragen sie einen Prozessor in ihrer Tasche mit sich herum, der mehr Rechenleistung hat als derjenige, womit wir in den 60er Jahren auf den Mond geflogen sind. Der Patient zeichnet immer häufiger alle möglichen Daten – darunter auch Gesundheitsdaten – auf, die für ihn zugänglich sind und relevant erscheinen: wie schnell er mit dem Hund gelaufen ist, wie aktiv die Stunde im Fitnessstudio war oder welche Lebensmittel gut für ihn sind. Selbst Kondome mit Sensorik gibt es jetzt. In diesem Bereich entsteht im Moment unglaublich viel. Ich könnte mir vorstellen, dass es bald Restaurants gibt, die QR-Codes neben den Menüs haben. Mein Smartphone meldet mir dann direkt, wie gut sich dieses Essen mit meiner Diät oder meinem gesundheitlichen Zustand vereinbaren lässt und überträgt die Daten in meine persönliche Datenbank. Letzten Endes bewegen wir uns dort immer mehr in einen konsumentengesteuerten Markt. Mit der Technologie ändern sich auch die Erwartungen des Patienten. Hat er eine Erkrankung, fragt er nicht mehr: Wo finde ich einen Arzt, der mich behandeln kann. Er fragt: Wer kann das gut behandeln. Wo kann ich mich im Vorfeld online erkundigen, welcher Arzt hat die entsprechende Expertise und bei welchem unter den gefundenen Ärzten bekomme ich schnell einen Termin ohne lange Wartezeit.

Eine andere Entwicklung zeigen Lebensmittelhersteller, die anfangen Functional Food herzustellen, also Essen, von dem der Produzent behauptet, es habe eine therapeutische oder gesundheitsfördernde Wirkung: Muskeln lassen sich schneller aufbauen oder es sorgt dafür, dass ich länger gesund bleibe. Zwar haben und benötigen diese Lebensmittel noch keine Zulassung als Medikament, aber es lässt sich beobachten, dass die Grenzen des Healthcare Marktes immer mehr ausfransen.

Welchen disruptiven Playern oder Start-ups trauen Sie zu, diesen technologischen Fortschritt zu nutzen und den Markt zu verändern?

Namen kann ich Ihnen da keine nennen, da einige meine Kunden sind. Eines aber haben alle gemeinsam: Sie schalten gewohnte Mittelsmänner aus. Zum Beispiel kann das der Großhandel der Pharmaindustrie sein oder Personaldienstleister in der Pflege. Ich arbeite mit einem Start-up in Koblenz zusammen, das eine Plattform für Pflegekräfte entwickelt. Diese erlaubt es ihnen, selbstständig zu entscheiden, wohin sie gehen möchten. Die Marge bleibt so zum großen Teil bei dem, der die Pflege anbietet und so entfällt wieder ein Mittelsmann. Ist mein Geschäftsmodell davon betroffen, tut das natürlich weh. Deswegen haben wir ja auch die aktuelle Situation, dass Versandapotheken dem Apotheker um die Ecke weh tun könnten. Bei einem Marktanteil von knapp 1,15 % der beklagten Versandapotheke ist das Verfahren wohl aber eher grundsätzlicher Natur. Aber am Ende des Tages muss jeder erkennen, dass diese technische Entwicklung nicht aufzuhalten ist, auch nicht durch kurzlebige politische Entscheidungen.

Wohin entwickelt sich die Rolle der Pharmaunternehmen im Gesundheitswesen?

Pharma wird sich überlegen müssen, wie sie Innovation im Healthcare-Sektor vorantreiben können. Sonst kann es passieren, dass sie nur noch zum Pillen- bzw. Päckchenlieferant werden. Was gut ist: Pharma beginnt verstärkt Innovationszentren ins Leben zu rufen. Die finanziellen Mittel für diese Zentren werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich stark zunehmen und damit auch eine größere Rolle spielen. Im Moment sind sie in der Digitalisierung noch nicht so richtig angekommen. Ich sehe aber starke Bewegung im Inneren der großen Unternehmen.

Ich glaube, es wird irgendwann einen Provider geben, der alle medizinischen Leistungen bündelt. Also Kassenleistungen, Arztleistungen usw. und Pharma muss aufpassen, dass sie nicht nur noch zum Zulieferer von Commodity werden.

Der Erfolg und die Margen pharmazeutischer Unternehmen sind Segen und Fluch zugleich. Segen, denn es lässt sich gut leben und Pharma hat die finanziellen Mittel, um in Innovation zu investieren. Fluch, denn sie stehen unter einem nicht so hohen Innovations-Druck wie ein Start-up, das sich ständig um Renditen kümmern muss. Im Vergleich zu anderen Branchen hat die Pharmaindustrie momentan noch Luxusprobleme – und das fördert nicht gerade Innovation.

Wer soll dieser Provider sein? Ein einzelnes Unternehmen?

­Ich glaube nicht, dass es ein einzelnes Unternehmen sein wird, das über alle Daten verfügt. Dazu ist der Markt zu groß und zu zerteilt und mit Angst besetzt. Was passiert, wenn die Datenbank geknackt wird und die Daten an die Öffentlichkeit geraten? Es gibt bereits einige Player, die sich in Stellung bringen. Neben den Großen, Google und Apple, überlegen sich auch die Telekom oder der TÜV in den Bereich Data-Hosting einzusteigen. Diese Lösungen könnten aber auch von einer ganz anderen Ecke kommen. Zum Beispiel schauen Energie-Provider im Moment, ob sie Datenbank und Security Technologie haben, die auch im Gesundheitswesen eingesetzt werden können. Autohersteller schauen, wie sie in einem Bereich aktiv werden können, den ich unter dem Begriff „Mobile Medicine Experience“ zusammenfassen würde. Sie wollen in diesem Rahmen auch User-Experience-Daten, also Daten zu den Nutzererlebnissen, sammeln.

Der Gesundheitsmarkt ist stark in Bewegung. Es ist kein starres System mehr mit Krankenkassen, Ärzten und Verwaltung, wo neben diesen Playern nicht viel passieren wird. Man sieht vielmehr, dass sich sehr viel bewegt und sogar die Krankenkassen bringen sich in Stellung. Die Barmer arbeitet jetzt mit Earlybird Ventures zusammen. Eine reine Versicherungsdienstleistung ist heute kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Krankenkassen müssen anfangen, ihren Kunden zusätzliche Leistungen rund um die Kernkompetenz der Krankenkassen anzubieten. Sie sitzen letzten Endes im gleichen Boot wie Pharmaunternehmen, die auch „Beyond the Pill“ denken – es aber noch nicht in letzter Konsequenz hinbekommen.

Es kann durchaus passieren, dass sich der Gesundheitssektor zu einem Preismodell entwickeln wird, bei dem nach „Outcome“ bezahlt wird. Ich könnte mir vorstellen, dass die Marktveränderung von einem Newcomer ausgeht, der sein „Portfolio“ kostenlos zur Verfügung stellt, ähnlich wie Tesla es mit ihren Patenten gemacht hat. Dieser Newcomer erklärt sich dann vielleicht bereit, nur bei Erfolg eine Erstattung zu verlangen, dafür erhält er aber in jedem Fall die entstandenen relevanten und selbstverständlich datenschutztechnisch einwandfreien Daten.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Gantner.

Dr. med. Tobias Daniel Gantner, MBA, LL. M. studierte Humanmedizin, Philosophie, (Gesundheits-)Ökonomie und Rechtswissenschaften in Deutschland, der Schweiz, der VR China sowie den USA. Nach seiner Assistenzarztzeit arbeitete er in Führungspositionen bei mehreren DAX Konzernen und internationalen Unternehmen der Gesundheitsbranche. Er ist Gründer und Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH. Sein Interesse gilt patientenzentrierter Innovation im Gesundheitswesen in systemischer, politischer und technologischer Hinsicht und der daraus resultierenden Veränderung von Geschäftsmodellen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der digitalen Transformation des Gesundheitswesens.

Dr. Tobias Gantner veranstaltet regelmäßig sogenannte Hackathons, Veranstaltungen bei denen verschiedene Beteiligte der HealthCare Branche zusammenkommen und innovative Lösungen zu Problemen der Gesundheitsbranche entwickeln. Mehr Informationen unter innovate.healthcare.

 

Im zweiten Teil des Interviews erzählen wir Ihnen wie sich die Rolle des Arztes in Zukunft ändern wird.

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