Erst die Pandemie, nun der Krieg in Europa: Eine Krise jagt derzeit die nächste – Black-Swan-Events, wie Inga Bergen sie nennt. Wir haben die Gründerin von „Visionäre der Gesundheit“ gefragt, vor welchen Herausforderungen das Gesundheitswesen aktuell steht und wo Pharmaunternehmen jetzt handeln müssen, um auch in Zukunft noch relevant zu sein. Ein Interview zu akuten Problemen, Megatrends und Dauerbrennern in der Pharmabranche.

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Was sind aktuell die größten Herausforderungen im Gesundheitswesen, die Pharmaunternehmen betreffen?

Inga Bergen: Ein brisantes Thema, über das ich auf der Handelsblatt-Tagung mit einigen Vertreterinnen und Vertretern aus der Pharmaindustrie gesprochen habe, ist das große Finanzierungsloch in der Gesundheitsversorgung, auf das wir uns in Deutschland gerade zu bewegen.

Neben solchen akuten Herausforderungen gibt es aber auch noch verschiedene Megatrends, auf die sich die Branche derzeit vorbereitet. Beispielsweise stellen sich Pharmaunternehmen darauf ein, dass das Geschäftsmodell, singulär Medikamente zu verkaufen, ein Auslaufmodell ist – zumindest in epidemiologischen Indikationen wie Adipositas, Diabetes, Krebs etc. Wir befinden uns noch ganz am Anfang, aber in Zukunft muss es eine outcome-basierte Gesundheitsversorgung geben, in der die gesamte Patienten-Journey besser gesteuert wird und auch andere Geschäftsmodelle integriert werden, die über den reinen Medikamentenverkauf hinausgehen.

Und dann gibt es natürlich noch Dauerbrenner wie den Wandel des Außendienstes, mit dem sich Pharmaunternehmen schon mehrere Jahre beschäftigen. Die Herausforderung dabei ist vor allem kultureller Natur: Die meisten Pharmaunternehmen wissen, dass sich hier etwas verändern muss, müssen aber erst einmal ihre alten, meist konservativen Strukturen aufbrechen – und auch das Mind- und Skillset der Mitarbeiter muss sich verändern. So eine große kulturelle Transformation ist nicht einfach und braucht Zeit.

Inga Bergen

Über Inga Bergen

Inga Bergen hat als CEO das Unternehmen welldoo zu einem der führenden digitalen Dienstleister im Healthcare-Markt gemacht. Außerdem ist sie die Gründerin und Gastgeberin des Podcasts „Visionäre der Gesundheit“, in dem sie Akteurinnen und Akteure aus der Healthcare-Branche und ihre Ideen für das Gesundheitswesen der Zukunft vorstellt.

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Was ist der nächste wichtige Schritt für Pharmaunternehmen?

Inga Bergen: Ich glaube, Innovationen und Veränderungen funktionieren nur, wenn sie auch an der Spitze der Unternehmensführung mit Authentizität vorangetrieben werden. Das Management braucht zunächst eine klare Vision, einen Kompass, wo es hin gehen soll und hat dann die Aufgabe, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so abzuholen und einzubeziehen, dass sie das Zielbild mittragen.

Wie sieht die Welt in 5 Jahren aus und was soll unser Beitrag dazu sein? Diese Frage müssen sich Pharmaunternehmen stellen und auch die entsprechenden Skills ins Unternehmen holen. Das ist oftmals gar nicht so einfach, weil eine konservative Branche meist nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzieht, die man für diesen Veränderungsprozess bräuchte. Die Unternehmen müssen also ein kulturelles Umfeld schaffen, in dem sich innovative Menschen wohlfühlen und solche grundlegenden Transformationen überhaupt erst möglich werden.

Natürlich haben gerade große Pharmaunternehmen nicht die Möglichkeit, einfach Tabula rasa zu machen und alles neu aufzusetzen, wie Start-ups das vielleicht können – sie können sich aber einiges von ihnen abschauen. Es gibt tolle Methoden, wie Design Thinking, mit denen man sehr schnell zu ganz konkreten Ergebnissen kommt. Diese Herangehensweise würde auch große Pharmaunternehmen wirklich voranbringen.

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Wo siehst du die Pharmabranche in den nächsten 5-10 Jahren?

Inga Bergen: Derzeit ereignen sich so viele Black-Swan-Events, also sehr seltene Ereignisse mit einem enormen Effekt, wie die weltweite Pandemie oder der Krieg in Europa, die eine Prognose sehr schwer machen. Klar ist jedoch: Diese Events werden dazu führen, dass sich das Gesundheitswesen und damit auch die Pharmabranche verändert. Das sehen wir aktuell zum Beispiel an dem immensen Kostendruck, der durch die Finanzierungslücke entstanden ist. Dadurch ist plötzlich vieles möglich, was in der Vergangenheit gescheitert ist – einfach, weil es durch die damals noch vorhandenen finanziellen Ressourcen keinen großen Veränderungsdruck gab.

Heute gibt es diesen Druck und wir sind gezwungen, das System effizienter zu gestalten. Wir müssen weg von Fehlanreizen, weg von unnötigen Behandlungen und weg von der Überversorgung, die wir an vielen Stellen haben. Das muss sich verändern, damit Platz und Ressourcen frei werden für neue medizinische Möglichkeiten, die schon längst in den Startlöchern stehen.

Pharmaunternehmen sollten sich also auf diese digitalen Möglichkeiten einstellen und auf all das, was Digitalisierung bedeutet. Dazu müssen sie die Perspektive der Menschen einnehmen, die jetzt aus dem Bildungswesen kommen, die jung sind und Stift und Zettel gar nicht mehr gewöhnt sind – Menschen, die einfach anders ticken. Unternehmen sollten sich fragen, wie ein System aufgebaut sein muss, um solche Leute abzuholen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen – das wird in Zukunft entscheidend sein.

 

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Daniela Drescher
Daniela Drescher
berichtet für coliquio Insights über die wichtigsten Marketing-Trends und liefert Inspirationen für die Pharmakommunikation der Zukunft.