In den letzten 18 Monaten hat sich im Silicon Valley eine interessante Entwicklung ergeben. Die immerwährende Suche nach dem „Next Big Thing“ fokussiert sich jetzt auf Medizin und Gesundheit. Healthcare-Start-ups, gegründet von ehemaligen Google-Managern und Medizin-Nobelpreisträgern, sprießen wie Pilze aus dem Boden und erhalten horrende Summen an Startkapital.

Autor und Spiegel-Journalist Thomas Schulz hat seinen Dienstsitz seit 10 Jahren im Silicon Valley und ist dort ganz nah dran an den Gründern und Technologie-Bossen. Beispielsweise interviewt er in regelmäßigen Abständen Facebook-CEO Mark Zuckerberg oder Google-Gründer Larry Page.

Im kleinen Kreis einiger CEOs deutscher Pharmaunternehmen gab Thomas Schulz beim coliquio-Leadership-Dinner spannende Einblicke, wie es zu dieser Entwicklung kam und warum sich jetzt Healthcare-Start-ups im Silicon Valley tummeln.

Warum gerade Healthcare?

Die Antwort findet sich in erster Linie in der technologischen Entwicklung der letzten Jahre und beruht auf den Gesetzmäßigkeiten von exponentiellem Wachstum, dem Faktor Convergence und dem Paradigmenwechsel durch Künstliche Intelligenz:

Technologischer Fortschritt verläuft exponentiell

Überall dort, wo digitale Technologie Einzug hält und Geschäftsmodelle digital skaliert werden können, verläuft Fortschritt nicht mehr linear, sondern exponentiell. Für die meisten Menschen ist die Auswirkung dieser Entwicklung nur schwer vorstellbar, denn wir befinden uns dann in einer Welt, in der zwei plus zwei nicht mehr vier ergibt, sondern vielleicht acht, zehn oder 16.

Am besten lässt sich dies am Bild eines Schachbretts verdeutlichen, auf das im ersten Feld ein Reiskorn platziert wird.  Auf dem nächsten Feld verdoppelt sich die Anzahl der Reiskörner und auf dem nächsten Feld wieder. Gerade am Anfang des Schachbretts ist eine exponentielle Entwicklung dabei kaum von einer linearen zu unterscheiden.

Doch in der zweiten Hälfte beginnen die Zahlen zu explodieren. Auf dem 32. Feld sind aus dem einen Reiskorn bereits mehrere Milliarden geworden.

Thomas Schulz berichtet (im Buch „Zukunftsmedizin“), dass viele Forscher inzwischen davon ausgehen, dass wir vor einem Jahrzehnt die zweite Hälfte dieses Schachbretts erreicht haben und es deswegen in jeder Branche zu erheblichen Sprüngen in der technologischen Entwicklung kommt. Diese Geschwindigkeit wird noch weiter zunehmen.

Convergence erlaubt „den großen Sprung nach vorn“

Doch warum Gesundheit und Medizin? Die Antwort: Gerade jetzt fließen viele Entwicklungen aller möglichen Disziplinen – wie Chemie, Physik, Materialwissenschaften und Robotik – zusammen und erlauben den „großen Sprung nach vorn“. – Dies gilt nicht exklusiv für den Gesundheitsbereich, wird aber nirgendwo sonst so große Auswirkungen haben.

In seinem Buch „Zukunftsmedizin“ (S.15) beschreibt Thomas Schulz dies folgendermaßen:

„Das vergangene Jahrhundert war davon geprägt, dass wir gelernt haben, zwei grundsätzliche Bausteine der Welt zu verstehen: das Atom und das Byte […] Jetzt sind wir auf dem Weg, die dritte Grundeinheit zu beherrschen: das Gen. Wenn es uns gelingt, die Kontrolle über die biologische Information zu erlangen, wird das die Welt grundlegend verändern. Dann wird der Mensch zum Schöpfer, der die nächste Stufe der Evolution selbst in die Hand nimmt.“

Genau dieser Sprung lässt sich im Moment in vielen Bereichen der medizinischen Grundlagenforschung beobachten und wird von den Playern im Silicon Valley als Convergence bezeichnet.

Künstliche Intelligenz liefert valide Ergebnisse

Einen besonderen Platz in der Reihe der technologischen Entwicklungen der letzten Jahre belegt definitiv Künstliche Intelligenz. Die Algorithmen, welche die Grundlage für Künstliche Intelligenz legen, sind eigentlich gar nicht neu, sondern kommen aus den 80er Jahren. Was sich verändert hat: Durch die exponentielle Entwicklung der Rechenkapazität fingen diese Algorithmen vor einigen Jahren an, plötzlich valide Ergebnisse zu produzieren.

Diese kommen heute besonders in der Grundlagenforschung der Medizin zum Tragen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Erfinder des selbstfahrenden Autos, Sebastian Thrun, jetzt eine Software entwickelt, die als eine Art Frühwarnsystem für Hautkrebs agieren soll und bereits genauso akkurat ist wie ausgebildete Dermatologen – nur um einiges schneller.

Auch bei der Bekämpfung von Krebs ist Künstliche Intelligenz Erfolgsfaktor. Microsoft-CEO Satya Nadella (Zukunftsmedizin, S.65) sagt dazu:

„Die Krebsforschung wird vor allem dadurch gebremst, die enormen Massen an Forschungsergebnissen nicht in Zusammenhang setzen zu können. In der Lage zu sein, enorme Mengen an Daten und Informationen zu ordnen, zu konsumieren, zu verstehen, das ist die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz.“

Mit voller Wucht in die medizinische Grundlagenforschung

Die oben beschriebenen Entwicklungen haben sich allerdings nicht schon lange angebahnt oder wurden so erwartet. Vielmehr sind selbst langjährige Experten von der Geschwindigkeit überrascht, mit der es in den letzten Monaten und Jahren zu gravierenden Entwicklungssprüngen kam.

Die meisten hätten nicht erwartet, dass die Technologie zur Gen-Manipulation CRISPR – kaum fünf Jahre alt – so schnell unverzichtbares Instrument in der Forschung werden würde. Oder, dass die Harvard Medical School aufgrund der Schnelligkeit dieser Entwicklung ihren Zeitplan für den Druck von Organen auf 20 % der vorherigen Prognose verkürzt hat.

Warum im Silicon Valley?

Doch diese technologischen Entwicklungen allein können nicht erklären, warum sich gerade im Silicon Valley ein Großteil dieser Start-ups tummelt. Die Gründe dafür sind einige Faktoren und Einstellungen, die in dieser Dichte nur hier zu finden sind – ein paar davon beleuchtete Thomas Schulz in seinem Vortrag beim coliquio Leadership Dinner:

Start-up-Kapital ist im Überfluss verfügbar

Spricht man über die Ursachen für den Reichtum an Start-ups im Silicon Valley, kommt man am Thema Finanzierung nicht vorbei. Knapp 70 Milliarden Dollar sind dort im letzten Jahr an Risiko-Kapital geflossen – mit teils gewagtem Finanzierungsverhalten: Platt ausgedrückt, wird Geld an die Wand geschmissen und geschaut, was hängen bleibt. Auch wenn nur eines von 10 Start-ups später Erfolg hat, refinanziert das die anderen neun Fehlversuche.

Außerdem haben einige der Tech-Giganten bereits so große Mengen an Kapital angehäuft, dass Profit nicht mehr das ultimative Ziel ist. Deswegen werden Start-ups finanziert, die vor allem in der medizinischen Grundlagenforschung aktiv sind. Nur so lässt sich erklären, warum ein Start-up mit dem Ziel, einen Massen-Früherkennungstest für Blutkrebs zu entwickeln, das „kleine“ Start-Kapital von 1 Milliarde Dollar bekommen hat – einfach, um mal anzufangen.

Ideen und Erkenntnisse werden frei geteilt

Ein anderer wesentlicher Faktor für die Dichte erfolgreicher Technologie-Unternehmen im Silicon Valley ist eine Kultur des freien Informationsflusses – auch zwischen eigentlich konkurrierenden Unternehmen. Dem liegt nicht nur der Idealismus einer besseren Welt durch Technologie zugrunde, sondern außerdem die Erkenntnis, dass alle Unternehmen vom Austausch profitieren. Immer wieder tauschen sich die Entwickler verschiedener Firmen aus und teilen Erkenntnisse in der Grundlagenforschung ihrer Disziplinen miteinander.

So zum Beispiel auch im Bereich der selbstfahrenden Autos: Aufgrund rechtlicher Veränderungen in Kalifornien haben inzwischen alle Autobauer Niederlassungen und Forschungszentren im Silicon Valley. Diese treffen sich alle zwei Wochen zum Pizza essen.

Das Silicon Valley setzt sich scheinbar unerreichbare Ziele

Der dritte Faktor ist die Philosophie des Silicon Valleys, sich nach dem Unerreichbaren auszustrecken. So konsequent wie kaum ein anderes Unternehmen folgt Google dieser 10x-Philosophie: Jede neue Unternehmung soll nicht nur um 5 % besser sein als der Status Quo, sondern 10-mal besser, schneller und fortschrittlicher. Google hat wie kein anderes Unternehmen den Ausdruck „Shoot for the Moon“ geprägt: Das Streben nach einer scheinbar unerreichbaren Realität und „unrealistischen“ Zielen. Dieses Mindset lässt sich inzwischen in vielen Bereichen des Silicon Valleys betrachten. Die Start-ups, die im Moment gegründet werden, setzen sich gewagte Ziele: Krebs soll „ausgerottet“ und das Leben um 20 – 30 Jahre verlängert werden.

Was bedeutet das für Pharmaunternehmen hierzulande?

Hört man die Berichte aus dieser Welt, so kann man zu einer von zwei Reaktionen tendieren: Entweder man nimmt jeden Hype unkritisch an und lässt sich voller Enthusiasmus mitreißen – oder man tut all diese Entwicklungen als größenwahnsinnig ab. Beide Reaktionen sind problematisch: Das wurde beim coliquio-Leadership-Dinner auch in der anschließenden Diskussion der Pharma-CEOs mit dem Referenten klar. Stattdessen sollten Pharmaunternehmen hierzulande Wege finden, sich die Stärken des Silicon Valleys zu eigen zu machen (z. B. schnelles Testen und Pivotieren von Ideen) und mit den eigenen Stärken zu kombinieren (z. B. langjährige Branchenerfahrung, bestehende Infrastruktur, etc.). Wie das gelingen kann, diskutieren wir auf dem coliquio Summit 2019.

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Am 18. Juni 2020 widmen wir uns wieder dem technologischen Wandel und den wichtigsten Trends im Pharma-Marketing. Merken Sie sich jetzt schon den Termin für das beliebte Networking-Event vor.

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