„Das kann ich nicht verordnen. Ich komme sonst in den Regress“. Mit diesem reflexartigen Kommentar wird der Außendienst vieler Originalpräparate-Hersteller konfrontiert - trotz überzeugender Argumente für den Einsatz des besprochenen Medikamentes. Mit der neuen Wirkstoffprüfung in Bayern, die im Juli dieses Jahres in Kraft getreten ist, ergeben sich allerdings laut Dr. Georg Lübben, Arzt und Abrechnungsexperte, für den Pharmavertrieb nicht nur Herausforderungen, sondern auch veritable Chancen, die es zu nutzen gilt.

Denn wenn er das neue System versteht, hat der bayerische Arzt nun mehr Transparenz zur Steuerung seiner Verordnungen.

Informationen zu Dr. Georg Lübben, dem Autor dieses Gastbeitrages, finden Sie am Ende des Artikels.

Prüfung von Arzneimittelverordnungen: KV Bayern geht neue Wege

Zur Kontrolle der Arzneimittelausgaben gelten seit 1. Juli 2015 in Bayern neue Regeln zur „Wirkstoffprüfung“. Damit betreten die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) und die Ärzte in Bayern echtes Neuland. Die bisher geltende Prüfung der Verordnungskosten der Arzneimittel nach Durchschnittswerten als Ersatz-Richtgrößenprüfung entfällt. Die neue Prüfsystematik wurde nach langem Tauziehen mit den Krankenkassen eingeführt, da Bayerische Ärzte sich einer hohen Anzahl an Prüfungen der Arzneimittelverordnungen ausgesetzt sahen. So wurden 2012 alleine knapp 1.600 neue Prüfverfahren in Gang gebracht, eine in Deutschland einmalige Zahl. Alter, Morbidität und die im hausärztlichen Bereich besonders relevante Verordnungstiefe wurden in der bisherigen Prüfsystematik nicht ausreichend berücksichtigt. Es bestand also Handlungsbedarf.

Herausforderung: „Rote Ampel“ führt zu übereilten Therapieumstellungen

Über die letzten Quartale wurden die bayerischen Praxen bereits an das neue System herangeführt. So bekamen die Praxen bereits im ersten und zweiten Quartal Informationen zu ihrem Verordnungsverhalten durch die sog. Trendmeldungen. In diesen wird das Verordnungsverhalten nach einem Ampelsystem bewertet. Die Interpretation der Trendmeldungen ist nicht ganz trivial. Entsprechend groß ist die Verunsicherung, wie Ergebnisse konkret zu bewerten sind. Therapieumstellungen bei einer „roten Ampel“ sogar im Vorfeld der Einführung des neuen Systems konnten in vielen Praxen beobachtet werden.

Dies gilt es, zu vermeiden!

Information und Aufklärung müssen also oberste Priorität haben, um der Verunsicherung aktiv entgegenzuwirken. Die Kundenkenntnis des Vertriebs ist jetzt wieder mehr gefragt denn je. Wie werden meine Kunden reagieren? Wo muss ich mit welcher Maßnahme gegensteuern?

Und tatsächlich gibt es Maßnahmen zum Gegensteuern: Die Bayerische Wirkstoffprüfung bietet nicht nur Herausforderungen, sondern auch echte Chancen für den Pharmavertrieb.

Die Fakten im Überblick

Direkt vorweg: Das Ziel der KVB beim neuen Prinzip der Wirkstoffprüfungen ist es, damit Prüfungen und insbesondere Regresse in Zukunft ganz zu vermeiden. Die meisten Praxen in Bayern hatten mit ihren Verordnungen kein Problem – und werden auch mit der neuen Systematik keines haben!

Und so funktioniert es: Die Steuerung der Verordnungen erfolgt jetzt nach Arztgruppen-spezifischen DDD-Quoten* für insgesamt 30 Wirkstoffgruppen. Je nach Fachgruppe ist die Steuerung der Verordnungen unterschiedlich komplex. Beispiele:

  • Kinder- und Jugendpsychiater: 1-2 Gruppen
  • Gynäkologen: 4-5 Gruppen
  • Haus- und Kinderärzte: 16-18 Gruppen

Für jede Wirkstoffgruppe gibt es jetzt eine Generikaquote:

DDD der Generika, Arzneimittel mit Rabattvertrag im Verhältnis zu DDD der patentengeschützten Originalen ohne Rabattvertrag

So liegt z.B. die Generikaquote für die Antidiabetika exkl. Insulin bei Allgemeinmedizinern bei 75,03%. Dies bedeutet, dass für die Erfüllung der Quote 24,97% der verordneten DDD auf Originale ohne Rabattvertrag entfallen darf. Für insgesamt vier Wirkstoffgruppen ohne generischen Wettbewerb wurden sogenannte Leitsubstanzquoten definiert.

Wichtig:

  • Die Anzahl der Patienten mit Verordnungen ist unerheblich. Allein das Verhältnis der verordneten DDD zählt.
  • Ebenso ist die sogenannte Verordnungstiefe unerheblich.
  • Bei der Steuerung der Verordnungen fallen die Kosten der Arzneimittel erst einmal nicht ins Gewicht.
  • Relevant ist die Zielerreichung der Praxis über alle Wirkstoffgruppen: Über- bzw. Unterschreitungen der Ziele in den einzelnen Gruppen werden miteinander verrechnet, d.h. saldiert.
  • Es werden nur auffällige Wirkstoffgruppen geprüft. Hier hat die Praxis Spielräume, häufig bis zu 15 Prozentpunkten!
  • Wenn mal ein Quartal „in die Hose geht“ hat man im Folgequartal immer noch die Möglichkeit gegenzusteuern. Wenn man dann das Ziel erreicht oder sich zumindest in der Zielerreichung um 15% verbessert, findet keine Prüfung statt.
  • Und wenn tatsächlich der „Ernstfall“ eintritt und der Regress droht: Die DDD in den Wirkstoffgruppen mit einer Überschreitung des Zielwerts werden verdoppelt. Sie wirken sich also doppelt regressmindernd aus.

Spielraum für die Verordnung von Originalpräparaten nutzen: Das sind die Chancen für den Pharmavertrieb

Mit der neuen Wirkstoffprüfung ergeben sich für den Pharmavertrieb auch veritable Chancen, die es zu nutzen gilt. Denn bisher wurde der Außendienst in vielen Fällen mit der Aussage konfrontiert: „Das kann ich nicht verordnen. Ich komme sonst in den Regress“. Diesem häufig reflexartigen Kommentar auf überzeugende Argumente für den Einsatz des besprochenen Medikamentes gilt es jetzt entgegenzutreten. Denn wenn man das System versteht, hat der Arzt mehr Transparenz zur Steuerung seiner Verordnungen.

Bisher wurde eine Praxis verglichen mit dem Durchschnitt der Fachgruppe. Wo dieser Durchschnitt bei den Verordnungskosten lag, war zum Zeitpunkt der Verordnung unbekannt: ein „Blindflug“ par excellence.

Jetzt hingegen kann man in jeder Wirkstoffgruppe die verordnete DDD-Menge, die Quote und die individuelle Zielerreichung sehen und abschätzen, ob man z.B. noch Spielraum für die Verordnung von Originalpräparaten hat, bis man die Auffälligkeitsgrenze erreicht – oder ob man bereits durch die Neueinstellung auf Generika oder Rabattvertragspräparate gegensteuern muss.

Jetzt Außendienst auf die Prüfsystematik schulen

Auf jeden Fall muss der Pharmavertrieb in Bayern die neue Prüfsystematik nicht nur verstehen, sondern auch aktiv in das Produktgespräch argumentativ integrieren können. Dies bedeutet ganz konkret, dass der Außendienst zur Interpretation der Trendmeldungen geschult und argumentativ trainiert werden muss. Auch muss das Thema in die ärztliche Fortbildung integriert werden.

In vielen Firmen versucht man, ein solches Thema allein in den Abteilungen Gesundheits-Management bzw. Market Access aufzufangen und den Außendienst nur so wenig wie möglich zu involvieren. Dieser – so hört man häufig – solle sich auf die Produktgespräche konzentrieren. Eine solche Strategie könnte jedoch zu kurz greifen und mit erheblichen Risiken einhergehen.

Es empfiehlt sich daher, mit diesem Thema im Vertrieb offensiv umzugehen. Ansonsten wird man womöglich in einigen Quartalen überrascht sein, wenn die aktuellen Zahlen belegen, dass es zu einem deutlich veränderten Verordnungsverhalten der Kunden gekommen ist.

Gastbeitrag von Dr. Georg Lübben, Arzt und Vorstand der AAC Praxisberatung AG.

Die AAC Praxisberatung AG (AAC) ist eine Unternehmensberatung für Behandlungseinrichtungen in der ambulanten Versorgung mit besonderer Expertise auf den Gebieten der KV-Abrechnung und des Managements der Verordnungen von Arznei- und Heilmitteln. Ein besonderer Schwerpunkt der Arbeit ist es, sein Wissen in Trainings und Workshops an Außendienst-Mannschaften zu vermitteln.

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