Bart de Witte beobachtet die digitale Transformation des Gesundheitsmarkts seit 20 Jahren – und treibt sie aktiv voran. Am 21. Juni ist er erstmals auf dem coliquio Summit in Berlin dabei. Ich habe vorab mit Bart de Witte darüber gesprochen, was ihn umtreibt. Im Interview schildert er, wie exponentielle Technologien den Medizinalltag tiefgreifend verändern und wo wir momentan stehen. Und er wagt eine Prognose, welche Rolle Pharmaunternehmen und Digital Health Start-ups in Zukunft spielen werden.

Nathalie Haidlauf: Sie bezeichnen sich selbst als Healthcare Nerd. Woher kommt Ihre Faszination für den Gesundheitsmarkt?

Bart de Witte: Das fing vor etwa zwanzig Jahren an. Damals war ich einer der ersten in meinem Umfeld, der einen Internetzugang hatte. Ich habe gemerkt, dass ich dadurch Zugang zu medizinischen Erkenntnissen und Studien bekomme, den andere nicht haben. Und ich habe festgestellt, dass das vorhandene Wissen von Ärzten nicht angewendet wird. Mir wurde klar: Das Internet wird den Effekt haben, medizinisches Wissen zu demokratisieren und das System transparenter zu machen. Ich beschloss, mich für die Digitalisierung in Healthcare einzusetzen. Angefangen hat es mit einer Website – heute nennt man das wahrscheinlich Start-up – auf der ich medizinische Studien übersetzen ließ und zur Verfügung stellte.

Nathalie Haidlauf: Ihre Faszination für die technologische Entwicklung und deren Einfluss auf Healthcare hat Sie seitdem nicht losgelassen.

Bart de Witte: Das ist richtig. Ich habe vor zehn Jahren angefangen, mir die Frage zu stellen: Wie kann ich meine eigene Gesundheit mithilfe von digitalen Tools und Wearables positiv beeinflussen?

Mich hat fasziniert, dass Patienten und Gesunde dadurch die Möglichkeit haben, ihre Gesundheit zu managen und auf Basis dieser Daten ihr Verhalten zu ändern. Ich habe da viel ausprobiert und so ziemlich alles, was ich vermessen konnte, vermessen. Das macht mich vermutlich auch zum Nerd.

Exponentielle Technologien und digitale Tools treiben den Wandel voran

Nathalie Haidlauf: Auf dem coliquio Summit in Berlin werden Sie mit uns diskutieren, wie neue Technologien den Medizinalltag verändern. Was ist für Sie aktuell die spannendste Entwicklung?

Bart de Witte: Es ist weniger eine spezielle Technologie, sondern die Kombination vieler. Die Rechenkapazität und das Datenvolumen wachsen exponentiell. 2020 werden sich die Daten in der Medizin alle 70 Tage verdoppeln. Wir haben die künstliche Intelligenz, die fast monatlich neue Machine Learning Algorithmen hervorbringt, welche die menschliche Performance in bestimmten Bereichen übertreffen. Und auch mein iPhone wächst exponentiell in seiner Leistung. Das iPhone X und seine Nachfolger haben beispielsweise einen integrierten Neural Engine Chip. Das sind alles exponentielle Technologien, die in Kombination zu neuen Innovationen führen.

Nathalie Haidlauf: Was bedeutet das für die Medizin?

Bart de Witte: Die Kombination aus Technologien und Tools führen zu einer weiteren Dezentralisierung von medizinischem Wissen. Denn viele dieser exponentiellen Technologien landen letztlich im Telefon oder in der Smartwatch. Ich kann heute mit meiner iPhone-Kamera in Kombination mit künstlicher Intelligenz bestimmte Laboranalysen durchführen für einen Preis, der minimal ist.

  • Digitale Tools werden immer intelligenter, immer kleiner, zugänglicher, billiger und stehen zunehmend dezentral zur Verfügung. Genau wie Harvard Professor Clayton Christensen es in seinem Buch „The Innovator Prescription“ beschrieben hat. Das wird den Medizin-Alltag sowohl für Patienten als auch für Fachkräfte stark verändern. Künstliche Intelligenz ist ein Teil dieses großen Ganzen, denn im Gesundheitswesen basiert sehr vieles auf Wissen. Künstliche Intelligenz hilft uns dabei, neues Wissen über Krankheiten oder neue Therapien zu erhalten und Wissen global zu skalieren.

    Bart de Witte IBM Deutschland GmbH / Director Digital Health DACH

Pharmabranche steht kurz vor dem Umbruch

Nathalie Haidlauf: Wo stehen wir momentan in der Digitalisierung des Gesundheitsmarkts in Deutschland? Ist Pharma auf einem guten Weg?

Bart de Witte: Unter Digitalisierung verstehe ich erstens, Dinge, die man schon analog tut, digital umzusetzen.

  • Und zweitens erlaubt uns die digitale Transformation, neue Dienstleistungen anzubieten und bessere medizinische Entscheidungen zu treffen. In dieser Entwicklung spielt Deutschland im internationalen Vergleich nicht mal im Mittelfeld.

    Bart de Witte IBM Deutschland GmbH / Director Digital Health DACH

Aber es tut sich etwas: Die großen Player der deutschen Pharma-Industrie haben alle angefangen, Digital-Health-Strategien zu entwickeln. Der CEO von Novartis sagte kürzlich, Daten werden in Zukunft genauso wichtig sein wie Moleküle. Das zeigt, dass wir kurz vor einer Transformation stehen.

  • Nach diesem Wandel werden sich Pharmaunternehmen auf digitalen Plattformen positionieren, digitale Tools werden klassische Therapien ergänzen. Ich denke hier wird ein Kampf stattfinden, ein Kampf um Daten, ein Kampf um digitale Kunden.

    Bart de Witte IBM Deutschland GmbH / Director Digital Health DACH

Hierbei könnten völlig neue Player auf den Markt drängen.

Nathalie Haidlauf: Die Entwicklung, dass neue Player in den Markt drängen, hat ja schon begonnen. Sie sind hier ganz nah dran, denn Sie arbeiten als Experte eng mit Healthcare Start-ups zusammen. Was können Pharmaunternehmen aus Ihrer Sicht von Start-ups lernen?

Bart de Witte: Start-ups sind ja derzeit in aller Munde, sie sind für viele die eierlegende Wollmilchsau der Digitalisierung. Einerseits zu Recht, denn es gibt einen Bedarf und Start-ups versuchen, Probleme durch digitale Interventionen zu lösen. Andererseits scheitern auch viele, nur eins von zehn Start-ups hat letztlich Erfolg. Und viele die Erfolg haben, werden verkauft.

Es gibt mittlerweile schon einen starken Transfer von agilen Methoden in die Unternehmen hinein. Viele Unternehmen aus allen Industrien, auch aus der Pharma-Industrie fangen an, digitale Hubs aufzusetzen. Hier wird eine andere Kultur etabliert, eine Kultur, in der Leute Dinge ausprobieren und scheitern dürfen – und so Innovationen vorantreiben.

Start-up-Geschäftsmodelle gehen in Pharma-Portfolios ein

Nathalie Haidlauf: Was ist Ihre Prognose: welche Rolle werden Start-ups im Gesundheitsmarkt langfristig spielen?

  • Ich bin mir nicht sicher, ob Health-Start-ups langfristig so disruptiv sein können wie sie es in anderen Industrien sind. Sie kämpfen beispielsweise mit den langen Produktentwicklungszyklen und mit der Hürde, ihr Produkt als Medizinprodukt zertifizieren zu lassen. Solche Themen machen es Start-ups sehr schwer, in diesem reglementierten Markt langfristig Erfolg zu haben.

    Bart de Witte IBM Deutschland GmbH / Director Digital Health DACH

Bart de Witte: Man muss aber auch bedenken: Jedes Start-up hat eine Exit-Strategie. Die besteht meist darin, die Lösung an Pharmaunternehmen zu verkaufen, die diese dann in ihr Portfolio integrieren. So war es ja beispielsweise bei der Diabetes-App mySugr, die heute zu Roche gehört.

Nathalie Haidlauf: Das heißt, dass Start-ups in dieser Phase der digitalen Transformation, in der wir uns gerade befinden, als Ideenkatalysator funktionieren, aber langfristig komplett in bestehenden Strukturen aufgehen könnten?

Bart de Witte: Das weiß ich nicht, aber es ist möglich. Man kann das vergleichen mit Tesla, die den Elektroantrieb vorangetrieben haben. Ohne Tesla wären BMW und Daimler wahrscheinlich nie so schnell in den Elektroantrieb eingestiegen. Ob Tesla am Schluss der Gewinner wird, müssen wir noch sehen. Aber es zeigt, dass ein Start-up einen ganzen Markt in Bewegung versetzen kann. Genau so könnte es im Gesundheitsmarkt geschehen.

Nathalie Haidlauf: Wir dürfen gespannt sein. Ich freue mich, Sie in Berlin zu treffen und mehr über diese spannenden Themen zu erfahren. Vielen Dank für den kurzen Einblick!

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Nathalie Haidlauf
Nathalie Haidlauf
berichtet für coliquio Insights über die wichtigsten Marketing-Trends und liefert Inspirationen für die Pharmakommunikation der Zukunft.