Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) haben sich die Bedingungen für Health Start-ups schlagartig verbessert. Oder wie Stephanie Kaiser es ausdrückt: „Jetzt müssen wir in die Puschen kommen.“ Die Heartbeat Labs-Gründerin spricht mit coliquio-CEO Martin Drees über die veränderte Marktsituation – und darüber, welche Chancen sich für Pharmaunternehmen jetzt ergeben.

Gute Zeiten für Digital Health Start-ups

Martin Drees: Im Gesundheitswesen hat sich ja einiges getan in den letzten Wochen. Eine reine Jammerhaltung darf man heute wahrscheinlich nicht mehr einnehmen, oder?

Stephanie Kaiser:  Ich finde, eine Jammerhaltung sollte man grundsätzlich nicht einnehmen – die führt zu nichts. Ja, es gibt unzählige Bestandsaufnahmen, die alle sagen, dass Deutschland in puncto Digitalisierung hinterherhinkt. Da würde ich sagen: ‚Das wissen wir jetzt. Let’s move on‘. Und wie du gerade schon gesagt hast, bewegt sich im Gesundheitswesen momentan sehr viel. Zum Beispiel ermöglicht das DVG jetzt, dass digitale Gesundheitsanwendungen (z. B. Apps) verordnet und dem Patienten die Kosten rückerstattet werden können. Das ist schon ein Meilenstein in Deutschland. Auch, dass Krankenkassen die Entwicklung digitaler Innovationen fördern, und dass wir nun für Fernbehandlung werben dürfen sind wichtige Hürden, die wir genommen haben.

Martin Drees: Es ist wirklich beeindruckend, was in den letzten Wochen abgeliefert wurde. Deutschland war bisher nicht das beste Fundament für neue Start-ups. Aber ich glaube, das hat sich jetzt drastisch geändert.

Stephanie Kaiser:  Ja, total. Es sind übrigens nicht nur die gesetzlichen Krankenkassen, die jetzt in Digital Health investieren können. Auch der Verband der Privaten Krankenversicherung hat gemeinsam mit uns und Flying Health einen Fonds initiiert. Das, was wir jahrelang konstatiert haben, nämlich, dass es zu wenig Wagniskapital in diesem Bereich gibt, stimmt jetzt also nicht mehr. Ich habe auch das Gefühl, die Start-ups geraten langsam unter Druck. Wir müssen jetzt in die Puschen kommen und auch wirklich Lösungen abliefern – es tut sich was und das ist toll.

Martin Drees: Es gibt jetzt keine Ausreden mehr. In der Pharmabranche stehen natürlich auch alle in den Startlöchern. Wie siehst du ganz persönlich die Rolle von Pharmaunternehmen?

Stephanie Kaiser:  Wir haben bisher noch nicht so viel mit Pharmaunternehmen zusammengearbeitet, würden das aber sehr gerne in diesem Jahr angehen, wenn wir das tun dürften. Hier sehe ich ganz viele Ansatzpunkte. Ein Beispiel: Wir haben jetzt all die Daten, wir haben eine Apple Watch, wir haben ein Telefon in unserer Tasche, wir haben den Oura-Ring, der uns jeden Tag sagt, wie gut wir geschlafen haben. Das führt dazu, dass wir auf Basis von Daten Entscheidungen treffen könnten. Zum Beispiel, welches Medikament in welcher Dosierung für jeden Einzelnen richtig ist. Ein anderer Bereich: Ich glaube, wir sind inzwischen alle beyond the point. Alle haben irgendwie eine App gebaut. Nur der Punkt ist: Die nutzt keiner, weil sie möglicherweise kein echtes Problem löst. Und das ist aus meiner Sicht unsere Aufgabe: Wir müssen herausfinden, was die konkreten Probleme sind, die wir lösen können.

Stephanie Kaiser

„Ich habe das Gefühl, die Start-ups geraten langsam unter Druck. Wir müssen jetzt in die Puschen kommen und auch wirklich Lösungen abliefern – es tut sich was und das ist toll.“

Stephanie Kaiser
Geschäftsführerin Heartbeat Labs / Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung

Stephanie Kaiser

Über Stephanie Kaiser:

Stephanie Kaiser hat über 12 Jahre Erfahrung im Aufbau digitaler Produkte. Als Gründerin und Geschäftsführerin von Heartbeat Labs will sie nun die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorantreiben. Heartbeat Labs versteht sich als Digital-Health-Plattform – hier werden Kooperationen geschlossen, Start-ups finanziert, und digitale Services entwickelt. Seit 2018 ist Stephanie Kaiser zudem ehrenamtliches Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung. Auf dem coliquio Summit am 18. Juni 2020 taucht sie noch tiefer in die Chancen von Digital Health ein und verrät, welches Mindset wir für den veränderten Gesundheitsmarkt brauchen.

Digital Health als Geschäftsmodell für Pharma

Martin Drees: In letzter Zeit haben Pharmaunternehmen verstärkt Biotech-Firmen aufgekauft. Jetzt, wenn digitale Gesundheitsanwendungen verordnet werden können, passt das auch in deren Geschäftsmodell. Wie siehst du das für Heartbeat Labs? Könnte Pharma ein möglicher Exit-Partner sein? 

Stephanie Kaiser:  Exit-Partner, ja – aber viel interessanter finde ich Partnerschaften. Pharmakonzerne können Innovationen oftmals nicht aus sich heraus stemmen. Das habe ich auch in anderen großen Unternehmen erlebt – das ist Industrie-unabhängig. Und deswegen bieten sich natürlich ein Partnerschaften an. Ich glaube nicht, dass immer jede Firma alles selbst können muss.

Stephanie Kaiser

„Ich glaube, dass man Patienten begleiten kann, ohne dass sie sich schlecht fühlen mit ihrer Krankheit.“

Stephanie Kaiser
Geschäftsführerin Heartbeat Labs / Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung

Martin Drees: Das denke ich auch. In der Pharmaindustrie war es bisher nicht nötig, Produkte kundenzentriert zu entwickeln. Vielen fehlt hier schlichtweg Erfahrung.

Stephanie Kaiser:  Ganz genau. Oft ist auch die Expertise aus anderen Industrien wertvoll, zum Beispiel aus dem Spiele-Bereich. Das ganze Business-Modell eines Spiels funktioniert nur, wenn die Leute jeden Tag wiederkommen, 365 Tage im Jahr. Ich habe mich über Jahre hinweg mit nichts anderem beschäftigt. Diesen spielerischen Aspekt in den Gesundheitsbereich zu bringen, halte ich für eine große Chance. Ich glaube, dass man Patienten begleiten kann, ohne dass sie sich dauerhaft schlecht fühlen mit ihrer Krankheit.

Martin Drees: Worauf achtet ihr, wenn ihr euch mögliche Partner anschaut? Was muss man denn an Mindset und Ressourcen mitbringen, damit ihr sagt: Ja, daraus könnte etwas werden?

Stephanie Kaiser:  Zunächst einmal schauen wir: Welche Indikationen können wir bedienen, und welches Problem wollen wir lösen? Und bei der Zusammenarbeit ist uns die Erwartungshaltung wichtig: Wenn ich mir eine digitale Lösung überlegt habe, dann bringt es nichts, noch zwei Monate weiter zu überlegen. Dann muss man einfach ausprobieren. Alles, was wir tun, ist Annahmen treffen. Wenn etwas nicht funktioniert, hat das nichts damit zu tun, dass der Produktmanager oder der Entwickler schlecht war, sondern die Annahme war einfach falsch. Das muss man einkalkulieren. Eine falsche Annahme ist übrigens kein Fehler, sondern eine widerlegte Annahme. Das weiß man in der Wissenschaft, das weiß man als Kind, aber irgendwie hat man es als Erwachsener verlernt. Ich glaube, ein bisschen von diesem Mindset muss man mitbringen, sonst funktioniert es auf Dauer nicht.

Keine Angst vor Digital Health

Martin Drees: Letzte Frage: Unser nächster coliquio Summit wird sich um das Thema Future Thinking drehen. Wenn wir uns Technologie, Produkte etc. anschauen, was wäre denn dein ideales Szenario, deine desirable future?

Stephanie Kaiser:  Mir ist wichtig, dass wir mit Mut und Optimismus daran gehen und keine Ängste vorschieben. Angst davor, was mit den Daten passiert, Angst davor, dass der Arzt ersetzt wird? Nein, der Arzt wird nicht ersetzt werden. Gute digitale Lösungen ermöglichen dem Arzt, sich auf das zu fokussieren, wofür er heute zu wenig Zeit hat. Auf das, was ihn als Menschen ausmacht, nämlich dass er empathisch ist, dass er sich Zeit nehmen kann für den Patienten – das sind Dinge, die der Patient dringend braucht. Das heißt, in meiner desirable future wird alles von Maschinen gemacht, was Maschinen machen können und all das ermöglicht wiederum Ärzten, sich auf das zu fokussieren, was eine Maschine nie können wird, nämlich dem Patienten auf die Schulter fassen, während ihm ein Loch in den Zahn gebohrt wird. Das kann keine Maschine. Und das wird auch so bleiben.

Stephanie Kaiser

„Dem Patienten auf die Schulter fassen, während ihm ein Loch in den Zahn gebohrt wird. Das kann keine Maschine. Und das wird auch so bleiben.“

Stephanie Kaiser
Geschäftsführerin Heartbeat Labs / Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung

Martin Drees: Ich glaube, das ist ein geniales Schlusswort. Vielen Dank, hat mich sehr gefreut.

Stephanie Kaiser:  Gerne! Wir treffen uns spätestens beim nächsten coliquio Summit.

Save the Date

Save the Date: coliquio Summit am 18. Juni 2020

Lust auf noch mehr Inspiration? Beim nächsten coliquio Summit geht es um das Thema Future Thinking. Wenn Sie erfahren möchten, welche Chancen Digital Health bietet und welches Mindset wir für den veränderten Gesundheitsmarkt brauchen, dann registrieren Sie sich jetzt schon für den coliquio Summit.

Bildquelle: https://www.heartbeatlabs.com/de/ueber-uns/

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Nathalie Haidlauf
Nathalie Haidlauf
berichtet für coliquio Insights über die wichtigsten Marketing-Trends und liefert Inspirationen für die Pharmakommunikation der Zukunft.