Dass sich in unserem Gesundheitssystem in nächster Zeit vieles ändern muss und wird, ist klar. Doch wie wird die medizinische Versorgung in 10 oder 20 Jahren aussehen? Das habe ich Bertalan Meskó gefragt, der als 'Medical Futurist' Zukunftsszenarien erforscht und analysiert:

Der wichtigste Trend im Gesundheitswesen: Patient Empowerment

Luise Recktenwald: Ihr Job ist es, die Zukunft der Medizin zu analysieren. Gibt es Entwicklungen, die selbst Sie überrascht haben?

Bertalan Meskó: Allerdings! Ich könnte stundelang über diese Themen reden. Es ist ziemlich aufregend, ein Medical Futurist zu sein, denn Teil meines Jobs ist es, die gesamte Bandbreite medizinischer Entwicklungen zu betrachten und die herauszufiltern, die das Potential dazu haben, das Gesundheitswesen von Grund auf zu verändern.

Patienten sollten im Fokus der Aufmerksamkeit stehen

Als Geek ist mir klar, dass ich mit künstlicher Intelligenz und wahnsinnig interessanten Technologien daherkommen sollte. Aber auf Platz 1 meiner Trend-Hit-Liste steht Patient Empowerment, also die Ermächtigung der Patienten. Patienten sollten im gesamten Gesundheitswesen im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Patienten brauchen Gesundheits- und Krankheitsmanagement und dafür brauchen sie Daten und Technologien. In der Vergangenheit hatten wir noch nicht mal Zugang zu grundlegendenden Vital- und Gesundheitsparametern. Es ist eine unausweichliche Revolution, dass Patienten nun endlich die Chance haben, ihre eigene Gesundheit durch den Einsatz von Technologie selbst zu managen.

Ich denke, das bringt die Patienten in den Fokus der Aufmerksamkeit – aber es bringt auch eine neue Verantwortung für die Patienten mit sich. Sie müssen Experten in Bezug auf ihre geistige, körperliche und emotionale Gesundheit werden und natürlich brauchen sie ärztliche Hilfe auf Augenhöhe, um die besten Entscheidungen treffen zu können.

Weitere wichtige Trends: Kognitive Computer, Genomik & Co

Um noch ein paar andere Beispiele zu nennen: Es ist kaum zu übersehen, dass ich von einer Menge Trends wie z.B. kognitiven Computern begeistert bin, die uns helfen können, die richtigen Informationen für egal welchen Patientenfall zu finden, indem Millionen medizinische Studien und Bücher innerhalb von Sekunden durchsucht werden können. Auch von Virtual Reality, Genomik und Augmented Reality bin ich ziemlich begeistert.

Was bringt die Zukunft der Medizin?

Luise Recktenwald: Sie hatten vorhin erwähnt, dass es Ihre Aufgabe ist, Trends in Gesundheitswesen und Medizin zu beobachten und die herauszufiltern, die das Potential haben, das Gesundheitswesen grundlegend zu verändern. Vielleicht können Sie ein Worst- und ein Best-Case-Szenario beschreiben, wie die Zukunft der Medizin in etwa 10 oder 20 Jahren aussehen könnte?

Bertalan Meskó: Oha! Das ist eine wirklich gute, aber auch schwierige Frage.

Das Worst Case Scenario: Gesundheitswesen ohne Menschlichkeit

Betrachten wir zunächst das ungünstige Szenario – weil die Chancen dafür im Moment höher sind. Ich bin immer optimistisch, aber an diesem Punkt muss ich pessimistisch werden, denn wir sind nicht gewappnet. Weder Patienten noch Fachkräfte sind auf die kommenden Veränderungen und auf die technische Revolution in Medizin und Gesundheitswesen vorbereitet.

Was also passieren könnte ist, dass sich die künstliche Intelligenz im Diagnostizieren von Patienten als besser erweist. Mit besser meine ich, dass sie billiger sein könnte als menschliche Mitarbeiter und Ärzte. Natürlich ziehen Patienten es vor, diagnostische Möglichkeiten und Behandlungen mit Ärzten durchzusprechen – falls es aber billiger sein sollte dies mit Algorithmen zu tun, dann wird es so kommen. Denn das Gesundheitswesen muss kosteneffizient und so günstig wie möglich sein.

Wenn alles so weiterläuft wie bisher, wird die Menschlichkeit völlig aus der medizinischen Praxis verschwinden.

 

Das bedeutet, dass Ärzte und Patienten sich gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es wird Apps und Algorithmen geben, die Empathie und alles andere vorgaukeln können. Das gesamte Gesundheitssystem mutiert zu einer gesichtslosen, gewinnorientierten Industrie ohne zwischenmenschliche Interaktion. Mir fällt kaum etwas Schlimmeres ein.

Luise Recktenwald: Wollen Sie damit sagen, dass Algorithmen auch über die Behandlung entscheiden könnten?

Bertalan Meskó: Ja, das denke ich! An einem gewissen Punkt können Algorithmen billiger sein, aber sie helfen den Patienten nicht bei der Genesung, denn Menschen sind keine Maschinen. Wir bestehen nicht ausschließlich aus Parametern und Daten. Bei der richtigen Entscheidung für die Behandlung geht es nicht nur um Datenmessung, um dann die Entscheidung aufgrund von Erfahrungswerten zu treffen. Es geht auch um Empathie. Wir brauchen Gespräche und wir brauchen die Menschlichkeit anderer, die uns durch diese Situationen hindurch helfen. Hier reichen keine Algorithmen und Roboter. Wir können keine Cyborgs werden, das ist nicht die Zukunft der Menschheit. Ich glaube, die Zukunft der Menschheit liegt im großen Nutzen von immer mehr und immer besseren disruptiven Technologien – aber dergestalt, dass wir Menschen und in Verbindung mit unserer Menschlichkeit bleiben.

Was können wir tun, um die Menschlichkeit in der Medizin zu erhalten?

Luise Recktenwald: Wie können wir vor dem Hintergrund, dass die Medizin immer technologischer wird, sicherstellen, dass die Menschlichkeit erhalten bleibt?

Bertalan Meskó: Ich denke, das hängt von uns selbst ab. Indem ich Technologien nutze, um gesünder zu leben, versuche ich das Gesundheitswesen umzukrempeln und genau das ist es, was wir tun müssen. Jeder einzelne von uns. Als Ärzte sollten wir unsere Arbeitsweise verbessern, wir sollten uns digital weiterbilden, eine neue Fähigkeit, mit der wir zum Ratgeber für Patienten werden anstatt der Hüter der Schlüssels zum Elfenbeinturm der Medizin zu sein, der ohnehin nicht mehr existiert. Es gibt einige Regionen, keine Länder, aber immerhin Regionen in der Welt, wo das bereits so geschehen ist: Von der Cleveland und Mayo Klink bis zum Radboud Medical Center in Mijmegen in den Niederlanden – es gibt großartige Beispiele von Leuten, die wollten, dass dies Wirklichkeit wird.

Als Patienten sollten wir anfangen, unsere Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Nichts und niemand wird das von oben ändern. Keine Regierung, kein politischer Entscheidungsträger, keine Obrigkeit kann das Gesundheitswesen von oben zum Besseren verändern. Wir müssen dies von unten tun. Jeder einzelne.

Luise Recktenwald: Ist das schon ein Hinweis darauf, wie Best-Case-Szenarios aussehen könnten?

Das Best Case Scenario: Maßgeschneidertes, kosteneffizientes Gesundheitswesen

Bertalan Meskó: Ja. Das Best-Case-Szenario liegt dann vor, wenn wir rechtzeitig verstehen, wie solche Technologien für uns nutzbar sind, speziell im Bereich Medizin und Gesundheit.

Im Best-Case-Szenario geht es um ein Gesundheitssystem, das absolut maßgeschneidert und kosteneffektiv ist und dessen Grundlage sowohl menschliches Mitgefühl als auch medizinische Befunden sind, das sich aber trotzdem an die sehr schnellen technologischen Veränderungen anpassen kann.

In Regionen, in denen überhaupt keine Gesundheitspflege vorhanden ist, weil es dort keine Ärzte gibt, bekommen Patienten dennoch medizinische Versorgung mittels Geräten und Technologien. Wenn es jedoch möglich ist, treffen sich Ärzte und Patienten vis-à-vis.

Es wird Ärzten endlich möglich sein, sich auf die Patienten zu konzentrieren, weil alles andere bereits erledigt ist: Der Arzt wird sich nicht mehr damit herumschlagen müssen, Informationen per Tastatur einzugeben oder zu versuchen, die richtige Studie für seinen Fall aus 23 Millionen medizinischen Studien herauszusuchen. Der Patient kommt zu ihm mit allen Gesundheits- und Vital-Parametern, Blutmarkern usw., die er mit ein paar billigen, aber exakten Geräten zuhause messen kann. Auf Grundlage der Daten benötigt der Patient jedoch Fachwissen, es bedarf also der Hilfe des Arztes.

Patienten mit Fachwissen über ihren eigenen Körper und Ärzte, die Experten auf ihrem Fachgebiet sind, treffen gemeinsam die beste Entscheidung – ich finde, das könnte das Best-Case-Szenario für die Zukunft der Medizin sein.

 

Bereits im Einsatz: Zwei innovative Technologien

Luise Recktenwald: Gibt es innovative Technologien, die bereits eingesetzt werden und eine deutliche Wirkung zeigen?

Bertalan Meskó: Sicher – lassen Sie uns ein paar Beispiele genauer betrachten.

Chemotherapie mit geringen Nebenwirkungen wird denkbar

Zuerst zur Genomik: Wir haben 24.000 Gene in unserer DNA. Ungefähr 500 dieser Gene gehören zu unterschiedlichen Krebstypen und es gibt circa 2 Millionen genetische Variationen, die etwas mit Krebsbehandlung und diagnostischen Möglichkeiten zu tun haben. Es gibt weltweit ungefähr 50 Medikamente, die als wirklich effizienter Bestandteil der Chemotherapie spezielle Krebszellen ansteuern können und über 200 andere Medikamente werden momentan klinisch getestet. Daher werden wir in den kommenden Jahren hunderte neuer Wirkstoffmoleküle haben, mit denen wir endlich ganz spezielle Krebszellen angehen können, wobei andere Zelltypen davon nicht beeinträchtigt werden. Das ist nämlich der Hauptgrund für Nebeneffekte in der Chemotherapie.

Supercomputer unterstützt Diagnosen und Therapieentscheidungen

Ein weiteres Beispiel ist der IBM Supercomputer Watson, der an US-Klinken seit ungefähr 2 Jahren eingesetzt wird. Kognitive Computer können die besten Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten für Onkologen vorschlagen. Natürlich treffen sie keinesfalls medizinische Entscheidungen, aber sie sammeln alle erforderlichen Informationen. Indem sie wirklich schlaue Algorithmen nutzen, versuchen sie die Dosierung zu finden, die die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit hat, damit Ärzte die richtige Diagnose und die besten Behandlungsmöglichkeiten herausfiltern können.

Ich denke, dass dies zwei wesentliche Beispiele sind, die das heutige Gesundheitswesen beherrschen. Aber nochmal: Von Patientenermächtigung über Gamifikation bis hin zu Do-it-yourself-Biotechnologien – es gibt einfach so viele Beispiele.

Buchempfehlung: ‘The Guide to the Future of Medicine’

Luise Recktenwald: Lassen Sie uns zum Schluss kurz über ihr Buch reden. Sie haben ‘The Guide to the Future of Medicine” geschrieben – ist dieses Buch auch für Mitarbeiter der Pharmaindustrie relevant?

Bertalan Meskó: Das Buch richtet sich an jeden, der sich für digitale Gesundheit interessiert. Der Grund warum ich glaube, dass das Buch auch für Mitarbeiter der Pharmaindustrie interessant wäre ist der, dass sie ein klares Bild von den wirklich wichtigen unter tausenden von Trends gewinnen, die es gerade gibt. Also denjenigen, die die kommenden Jahre im Gesundheitswesen bestimmen werden. Das Buch enthält auch einen Ratgeber, wie wir uns als Einzelne auf die kommenden Veränderungen vorbereiten können. Wie können wir das Beste aus der digitalen Medizin für uns herausholen? Wie können wir für die Patienten arbeiten, im Sinne von pro Patient? Ich glaube, das ist der Grund, warum dieses Buch auch für die Leute aus der Pharmaindustrie interessant ist. Für coliquio-Insights-Leser habe ich einen Rabattcode organisiert, mit dem es 20% Nachlass gibt.

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Über Bertalan Meskó

Bertalan Meskós Berufswunsch stand schon im Alter von sechs Jahren fest: Er wollte Arzt werden und sich auf Genetik spezialisieren.

Im Alter von 25 Jahren verließ er die medizinische Fakultät als PhD und Genetiker und absolvierte im Anschluss den FutureMed-Kurs der NASA. Bertalan Meskó begründete das wissenschaftliche Feld des medizinischen Futurismus und ist Mitglied der ‚Futuristic Studies Research Group of the Hungarian Academy of Sciences‘ und der World Future Society.

Angespornt von dem Wunsch nach einer positiven Zukunft des Gesundheitswesens, spricht er weltweit auf Konferenzen und arbeitet als Berater für Pharma-Unternehmen und andere Stakeholder des Gesundheitswesens.

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