Was bewegt derzeit den Gesundheitsmarkt? Welche Möglichkeiten wird der “Empowered Patient” in naher Zukunft haben und wie wird sich die Rolle des Arztes verändern? 

Wir haben mit Dr. Tobias Gantner auf der coliquio Lounge in Köln gesprochen. Er ist Geschäftsführer der Healthcare Futurists, einem Think Tank und Make Tank für Beweger und Erneuerer im Gesundheitswesen. Im ersten Teil unseres Interviews haben wir mit Dr. Tobias Gantner über Innovation im Gesundheitsmarkt geredet.

Herr Dr. Gantner, was sind die Möglichkeiten des Empowered Patient heute? Was werden sie in den nächsten Jahren sein?

Grundsätzlich hat der Empowered Patient, wenn Sie ihn so nennen wollen, heute einiges an Möglichkeiten. Vieles davon hängt jedoch von der Online-Affinität des Patienten und der Art seiner Erkrankung ab. Ist es ein junger Patient mit einer chronischen Erkrankung wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn oder Diabetes Typ 1 und einer hohen Affinität für digitale Technologien, wird er sich viel stärker damit auseinandersetzen, selbstbestimmter vorgehen und auch mit seinem Arzt ganz anders umgehen. Haben Sie einen Patienten, der im Alter von Anfang 50 oder 60 Diabetes Typ 2 bekommt und nicht sehr technikaffin ist, wird er vielleicht eher nur ein Präparat und seine Ruhe haben wollen, um nicht selbst Verantwortung übernehmen zu müssen, sondern vom Arzt geführt zu werden.

Summa summarum sind Medikamente ein Versprechen in Pillenform: ich nehme ein Medikament und mein Blutzucker geht runter. Genauso gut könnte ich bei manchen gesundheitlichen Problemen durch mehr Bewegung oder Ernährung eine Besserung herbeiführen. Ich will das nicht kritisieren, aber so sind die Geschäftsmodelle im Moment definiert. Deswegen weiß ich nicht, wie groß die Veränderung in den nächsten drei Jahren sein wird. Möglichkeiten hat der Empowered Patient heute viele, es gehört aber eine Bereitschaft zur Anpassung dazu. Wer das Thema Verhaltensänderung knackt, sei es mit einer App oder auf andere Art, der wird ein neues Kapitel in der Prävention eröffnen.

In den nächsten 30 Jahren wird sich einiges verändern, allein deshalb, weil dann auch ältere Menschen bereits mit der Digitalisierung groß geworden sind, digitale Geräte zum neuen Normal gehören und Menschen sich deswegen auch anders verhalten werden. Der große Knackpunkt sind gar nicht so sehr die technischen Möglichkeiten, sondern das Verhalten, das sich ändern muss. Wie wir das herbeiführen können, da fischen wir noch im Trüben.

Eine Herangehensweise sind Gamification-Ansätze, eine andere vielleicht ein monetärer Ansatz: Verhalte ich mich gesund bzw. therapiecompliant, bekomme ich Geld zurück. Ein anderer Ansatz ist über „Peer-Pressure“ zu gehen: sei es der Druck durch die Familie, durch Run-Buddies oder andere Formen von Wettbewerben.

Wir versuchen diese verschiedenen Ansätze gerade zu untersuchen. Und hier kommt wieder die Technologie ins Spiel, denn durch die nahtlose Integration digitaler Technologie haben wir einen gewaltigen Gewinn an Daten, die wir versuchen können, zu Informationen zu aggregieren. Hier muss dann natürlich die ethische Diskussion geführt werden, denn es kann selbstverständlich keine Gesundheitsdiktatur entstehen, welche die Menschen verbannt, die sich nicht konform verhalten. Deswegen muss dieses Thema gesellschaftlich diskutiert werden, gerade in einem solidarisch finanzierten System.

Wie spielen der „Empowered Patient“ und das Thema Adhärenz zusammen?

Es sind zwei Themen, die hier wichtig werden. Das eine ist das Thema Polypharmazie: Ein Patient, der verschiedene Präparate nimmt, hat in den meisten Fällen keine Informationen darüber, welche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen entstehen. Es kann also sein, dass er sich nicht adhärent verhält, da diese Wechselwirkungen zu unerwünschten Nebenwirkungen für ihn führen, die er der Therapie zuschreibt. Daher kommen dann auch Fragen wie: Was nimmt der Patient und wie glaubt er, dass es ihm nützt? Das andere wichtige Thema ist, was ich die letzte Meile nenne: Der Patient holt das Medikament aus der Apotheke und nimmt es auch regelmäßig ein. Das zu kontrollieren ist technologisch gar nicht so leicht. Statte ich eine Pille beispielsweise mit einem Sensor aus, der bei Berührung mit Salzsäure reagiert, dann habe ich keine Garantie dafür, dass der Patient die Pille wirklich genommen hat, denn es kann genauso gut die Salzsäure im Magen des Hundes sein, auf die der Sensor reagiert. Oder er kauft sich einfach Salzsäure in der Apotheke. Wenn der Patient weiß, er bekommt für die Einnahme des Medikaments 5 €, z. B. in einer Studiensituation, dann hat er nicht zwangsläufig einen Anreiz, das Medikament selbst zu nehmen, sondern lediglich sicherzustellen, dass es mit Salzsäure reagiert.

Was Sie aber in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigen dürfen: Technologie sollte immer nur ein Mittel zum Zweck sein, das dem Arzt erlaubt, sich dem Patienten gegenüber „menschlicher“ zu verhalten. Zum Beispiel, wenn der Arzt sich zukünftig ganz dem Patienten widmen kann, weil ein Computer das Gesprochene aufzeichnet und die notwendigen Maßnahmen nach Freigabe durch den Arzt einleitet. Dann hat der Arzt mehr Zeit, um den menschlichen Kontakt herzustellen, dem Patienten die Arme um die Schulter zu legen, Mut zuzusprechen usw. Ich bin davon überzeugt, dass der Arzt in seiner Person selbst bereits ein wichtiges „Medikament“ ist, sofern er auch als Arzt auftritt und nicht als frustrierter Computerdompteur. Dann hat er schon einen großen Einfluss auf die Adhärenz. Hat der Arzt aber nur fünf Minuten Zeit für den Patienten, in denen er die Pillen verschreiben und erklären muss, dann geht das Menschliche verloren. Deswegen würde ich auch dazu raten, keine Angst vor der Technologie zu haben, sondern sie möglichst barrierefrei in den Alltag einzubauen, aber auch die ethischen Diskussionen nicht gering zu schätzen.

Wie wird sich die Rolle des Arztes durch die digitale Transformation ändern?

Die Rolle des Arztes wird sich wandeln vom Gott zum Guide, das ist bereits in vollem Gange. Die Ärzte finden sich jetzt schon einigen narzisstischen Kränkungen ausgesetzt, da z.B. die Verträge nicht mehr so gut sind, wie noch vor einigen Jahren. Auch der Ärztemangel, von dem Sie immer wieder hören, wird zum Teil davon ausgelöst, dass viele junge und digital affine Ärzte die Medizin verlassen und etwas anders machen oder in andere Länder gehen. Sie haben verstanden, dass die Digitalisierung auch ein Egalisierungs- bzw. Demokratisierungsinstrument im besten Sinne sein kann, wenn es nicht gerade für „Fake News“ und „alternative Facts“ eingesetzt wird. Was meine ich also damit? Der Arzt muss sich vom Gott zum Guide wandeln: Vor der Digitalisierung, war der Arzt noch der Halbgott in Weiß und gottgleich für alles medizinische Wissen. Durch die Digitalisierung sind zunehmend mehr Informationen online und damit frei verfügbar. Deswegen wandelt sich seine Rolle zum Guide, der dem Patienten in diesem Dschungel aus Fake News und Alternativen Fakten hilft, die Spreu vom Weizen zu trennen. In dieser Form könnte man ihn mit einem guten Journalisten vergleichen.

Ich glaube, Ärzte sehen zunehmend, dass sich ihre Rolle verändert. Manche passen sich schneller an und andere nicht so schnell. Die einen haben eine Homepage mit Online-Terminvereinbarung und sind über Televisite erreichbar. Und andere brauchen eher länger dafür, da sie eine Klientel haben, die darauf keinen Wert legt. Im Großen und Ganzen betrachtet, ist diese Entwicklung aber unausweichlich und ist in vielen Bereichen bereits so gegangen: Einzelhandel und Onlineshopping, Mondscheintarif und Flatrate, Disko und Parship etc.

Wie wird das Zusammenspiel von Dr. Google und dem Arzt von morgen aussehen?

Diese Geschäftsmodelle werden ein spannendes Feld in der Zukunft sein. Im Moment wird die erste, komplett digitale private Krankenkasse gegründet, genannt Ottonova – inspiriert von Otto von Bismarck, der die Sozialversicherung eingeführt hat. Zum Beispiel könnte Ottonova anbieten, mit bestimmten Suchalgorithmen zu arbeiten, die Google verbessern und Fake News ausfiltern. Gerade Fake News sind im medizinischen Bereich ein großes Problem: Einige Ärzte-Kollegen von mir sagen, wenn Patienten zu mir kommen, muss ich sie oftmals erstmal „entgooglen“ und dafür sollte es bereits eine Abrechnungsziffer geben. Im ersten Schritt ist das natürlich ärgerlich, aber darin liegt auch eine Chance für das Arzt-Patienten-Verhältnis. Da kommen wir zurück zu der Rolle des Arztes als Guide, der dem Patienten in diesem Dschungel helfen kann. Und die Fort- und Weiterbildung kann man nicht Dr. Google, Wikipedia oder der Pharmaindustrie überlassen, sondern die muss vom Arzt begleitet werden und dazu muss er sich selbst ständig weiterbilden.

Wenn wir 5 Jahre vorausschauen, wie wird sich Healthcare verändern?

Das Quantified-Self wird sich zu einem Qualified-Self entwickeln. Denn Daten, die ich nur erheben kann, aber nicht verstehe bzw. nicht richtig interpretieren kann, machen mich nur zu einem Hypochonder. Ich gehe davon aus, dass es einige Services geben wird, die mir helfen, die Daten – aus Fitnessstudio, Essen usw. – besser zu interpretieren. Es wird zu einer größeren Vernetzung zwischen den verschiedenen Gesundheitsdiensten kommen. Zum Beispiel wird es Angebote von Krankenkassen geben, die es Ihnen ermöglichen, sich im Fitnessstudio einzuloggen und alle Trainingsdaten werden erfasst. Ihr Fitnesstrainer gibt Ihnen Tipps, wie Sie die Übungen noch besser ausführen können. Im Autositz wird es eine Anleitung für Rückenschule geben. Wir werden viel mehr auf Mobilgeräten machen, und die Telekonsultationen werden ihre ersten tragfähigen Geschäftsmodelle zeigen.

Auch im Bereich der technologischen Innovationen wird sich einiges tun. Ich glaube beispielsweise, 3D-Druck von Medikamenten wird für bestimmte Indikationen Standard sein. So können dann Medikamente gedruckt werden, die mehrere Wirkstoffe enthalten. Vielleicht wird das nicht in Deutschland passieren, aber es wird auf jeden Fall ein Land geben, wo das Praxis ist.

 

Herr Dr. Gantner, vielen Dank für das Gespräch!

Dr. med. Tobias Daniel Gantner, MBA, LL. M. studierte Humanmedizin, Philosophie, (Gesundheits-)Ökonomie und Rechtswissenschaften in Deutschland, der Schweiz, der VR China sowie den USA. Nach seiner Assistenzarztzeit arbeitete er in Führungspositionen bei mehreren DAX Konzernen und internationalen Unternehmen der Gesundheitsbranche. Er ist Gründer und Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH. Sein Interesse gilt patientenzentrierter Innovation im Gesundheitswesen in systemischer, politischer und technologischer Hinsicht und der daraus resultierenden Veränderung von Geschäftsmodellen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der digitalen Transformation des Gesundheitswesens.

Dr. Tobias Gantner veranstaltet regelmäßig sogenannte Hackathons, Veranstaltungen bei denen verschiedene Beteiligte der HealthCare Branche zusammenkommen und innovative Lösungen zu Problemen der Gesundheitsbranche entwickeln. Mehr Informationen unter innovate.healthcare.

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1 Kommentare
  • Anonymous

    War sehr inspirierend der Vortrag.

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