Wie die medizinische Versorgung in 10 oder 20 Jahren aussehen könnte, habe ich Bertalan Meskó gefragt, der als ‚Medical Futurist‘ Zukunftsszenarien erforscht und analysiert. In Teil 1 des Interviews haben wir über Best-Case- und Worst-Case-Szenarien für die Zukunft der Medizin gesprochen. Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews, in dem es um die praktischen Implikationen für Pharmaunternehmen geht:

Neue Player im Pharma-Markt und die Angst, abgehängt zu werden

Luise Recktenwald: Als Medical Futurist arbeiten Sie unter anderem als Berater für pharmazeutische Unternehmen. Was ist nach Ihrer Erfahrung die größte Angst in der Pharmaindustrie im Hinblick auf die Zukunft der Medizin?

Bertalan Meskó: [lacht] Das ist eine Frage, die ich normalerweise von den Beiräten der Pharmafirmen gestellt bekomme, in denen ich sitze. Und ich habe eine sehr einfache Antwort parat: Die größte Angst der Pharma-Industrie ist es, dass es sie eines Tages nicht mehr geben wird. Weil andere, sich schneller entwickelnde Unternehmen sie überholen könnten. Seit Jahrzehnten bestand das wirkliche Risiko für Pharma-Unternehmen darin, dass sie den Zug verpassen könnten und dass es für sie zu spät sein könnte, auf den Zug der digitalen Gesundheit aufzuspringen.

Aber jetzt besteht das Risiko darin, dass es gar keine Züge mehr gibt, auf die man aufspringen könnte. Es gibt Flüge ins All und Flugzeuge mit Überschallgeschwindigkeit. Es wird später nicht mehr möglich sein, auf ein Flugzeug mit Überschallgeschwindigkeit aufzuspringen. Es hebt jetzt gerade ab.

Wer rechtzeitig handelt hat die Chance, die Vorgehensweise der eignen Firma zu ändern und sich an die neuen Bedürfnisse anzupassen, die durch die technologische Revolution und Patient Empowerment entstanden sind. Andernfalls ist man raus aus dem Geschäft.

Ein Beispiel: Medikamente aus dem Drucker?

Um nur ein Beispiel zu nennen: Es gibt Gruppen, zum Beispiel in Schottland, die an einer Technologie arbeiten, mit der sie Medikamente ausdrucken können. Wenn ich heute eine Verordnung bekomme, bekomme ich ein Medikament, das für Millionen von Leuten hergestellt wurde, obwohl wir alle genetisch und in vielerlei Hinsicht unterschiedlich sind.

Stellen Sie sich das vor: Ich gehe zu meinem Arzt, wir entscheiden uns für ein Medikament in bestimmter Dosis für mein spezielles molekulares und genetisches System und ich nehme diesen Medikamenten-Blueprint mit in meine Apotheke, wo sie es sofort und vor Ort ausdrucken können – ohne Beteiligung der Pharmaindustrie.

Und das ist nur eine technologische Richtung von vielen, die die ganze Pharmaindustrie zerstören könnten. Es gibt als jede Menge Gründe, warum Pharma-Firmen sich auf diese technologischen Veränderungen einstellen müssen, da sie ansonsten ganz schnell weg vom Fenster sind.

Luise Recktenwald: Sie sagen also im Grunde, dass es für die Pharmaindustrie einen berechtigten Grund zu Sorge gibt.

Bertalan Meskó: Ja und zwar wegen dem, was ich gerade beschrieben habe. Ein weiterer Grund ist, dass die Pharma-Branche nicht auf die Selbständigkeit ihrer Patienten vorbereitet ist. Das gesamte Konzept der Pharmaindustrie ist nicht um Patient Empowerment herum strukturiert, sondern konzentriert sich auf medizinisches Fachpersonal. Aber heutzutage sind manche Patienten mit seltenen Krankheiten über diese besser informiert als ihre Ärzte. Das gesamte System ist im Wandel.

Wie sich die Pharmabranche vorbereiten kann:
Digitale Bildung kann den Wandel erleichtern

Jede Interessengruppe im Gesundheitswesen einschließlich der Pharmaunternehmen und Fachkräfte muss verstehen, dass der Patient König sein wird. Patienten werden im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Wir müssen uns deshalb auf die Bedürfnisse der Patienten ausrichten und das Gesundheitssystem entsprechend umstrukturieren und neu gestalten.

 

Luise Recktenwald: Das ist also der Rat, den Sie jedem Pharmaunternehmen geben würden, um sich auf das, was kommt, vorzubereiten.

Bertalan Meskó: Ja. Ich glaube ein Unternehmen hat keine andere Chance als die, dass die einzelnen Mitarbeiter ihre digitale Bildung verbessern. Die Mitarbeiter müssen auf dem neuesten Stand sein und ihr eigener Futurist für ihr Unternehmen werden. So kann sich das ganze Unternehmen auf die kommenden technologischen Trendwellen vorbereiten.

Das Ende der Medikamententests an Menschen: Eine Möglichkeit für die Pharmabranche, schneller und kosteneffektiver zu werden

 

Luise Recktenwald: In Ihrem Buch erwähnen sie auch etwas, was für die Pharmaindustrie eine Chance darstellen könnte: Sie sprechen vom Ende der Medikamententests an Menschen. Wie könnte das aussehen?

Bertalan Meskó: Momentan testen wir Medikamente an Patienten. Wir geben einigen Patienten Medikamente und anderen Placebos und versuchen herauszufinden, welche unterschiedlichen Wirkungen diese Medikamente auf die Patienten haben. Wenn man darüber nachdenkt, ist das eine ziemlich barbarische Methode. Wir testen Medikamente an Menschen. Ich unterstütze die Idee sehr, dass Menschenversuche eingestellt werden, was den Einsatz kognitiver Computer und virtueller Modelle der menschlichen Physiologie miteinschließt.

Organs-on-chip-Techniken wurden bereits vorgestellt: Ein Mikrochip könnte damit die Physiologie der Lunge, des Herzens, der Leber und so weiter abbilden. Wenn man diese Mikrochips verbindet – und das ist bis Ende 2016 geplant – entsteht mehr oder weniger ein Modell der menschlichen Physiologie, mit dem tausende neuer Medikamente an Milliarden von Patientenmodellen in wenigen Sekunden getestet werden könnten. Das wäre nicht nur das Ende der Menschenversuche, sondern könnte Pharma-Unternehmen auch ein großartiges Werkzeug an die Hand geben, um ihre Tests billiger und effektiver zu gestalten. Tests könnten fast virtuell geschehen, statt jahrzehntelang zu dauern und tausende Leute zu involvieren, was wiederum nur die Fehlerquote erhöht. Darum nochmal: Es würde die klinischen Versuche der gesamten Pharmaindustrie zum Besseren verändern. Und ich hoffe sehr, dass Institutionen wie zum Beispiel das Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering in den USA Lösungen dafür ausarbeiten können, damit wir schon sehr bald ein virtuelles Modell der menschlichen Physiologie haben, am besten schon in den nächsten Jahren.

Luise Recktenwald: Sie würden also sagen, dass diese Vorstellung mehr ist als nur Science Fiction, dass das in 10 oder 15 Jahren tatsächlich wahr werden könnte? Was ist Ihre grobe Schätzung?

Bertalan Meskó: Ich bin sogar etwas optimistischer. Es gibt eine Methode namens HumMod. Und HumMod ist ein bereits existierendes virtuelles physiologisches Model des menschlichen Körpers. Es beinhaltet über 6.500 Variablen. Auch wenn der menschliche Körper mehrere Millionen Variablen hat, kommen wir der Sache immer näher. Es ist sowieso nicht das Ziel, den menschlichen Körper komplett zu imitieren, denn das würde Jahrzehnte an Forschung und wirklich riesige Supercomputer erfordern. Es geht darum, diejenigen Prozesse zu imitieren, mit denen ein umfassender Medikamententest durchgeführt werden kann. So, dass die Sicherheit umfassend getestet und die Wirkung der Medikamente und deren Nebenwirkungen eindeutig sind. Und ich glaube, dass wir in 10 Jahren zumindest eine Methode haben werden. In 15 Jahren können wir dann hoffentlich dieses ganze Herumexperimentieren an Menschen, die als Versuchskaninchen dienen, vergessen.

Luise Recktenwald: Vielen Dank für das Gespräch!

Über Bertalan Meskó

Bertalan Meskós Berufswunsch stand schon im Alter von sechs Jahren fest: Er wollte Arzt werden und sich auf Genetik spezialisieren.

Im Alter von 25 Jahren verließ er die medizinische Fakultät als PhD und Genetiker und absolvierte im Anschluss den FutureMed-Kurs der NASA. Bertalan Meskó begründete das wissenschaftliche Feld des medizinischen Futurismus und ist Mitglied der ‚Futuristic Studies Research Group of the Hungarian Academy of Sciences‘ und der World Future Society.

Angespornt von dem Wunsch nach einer positiven Zukunft des Gesundheitswesens, spricht er weltweit auf Konferenzen und arbeitet als Berater für Pharmaunternehmen und andere Stakeholder des Gesundheitswesens.

Bertalan Meskó ist der Autor des Buchs ‘The Guide to the Future of Medicine’. Für coliquio-Insights-Leser gibt es dafür 20% Rabatt.

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